MISSION weltweit – Ausgaben 2015

mission weltweit 7–8/2015 21 weiterdenken >> gastbeitrag von michael stahl Als Kind eines alkoholkranken Vaters und einer Mutter, die Tag für Tag um ihre Würde kämpfen musste, begann mein Leben in einem völlig heruntergekommenen Haus. Von November bis März hatten wir manchmal eingefrorene Leitungen. Ratten und Mäuse liefen einem über den Weg. Fünf Personen, meine Eltern, meine beiden Geschwister und ich, schliefen in einem Zimmer. Ein Badezimmer gab es nicht. Nie wurden Freunde eingeladen, es gab weder Fahrradtouren noch Spielsachen, und das Nötigste habe ich mir oft erbettelt. Als ich einmal meinen Vater gespannt fragte: „Papa, was bekomme ich heute zum Geburtstag?“, blickte er mir mit Verachtung fest in die Augen, spuckte mir mitten ins Gesicht und fragte: „Reicht das? Willst du noch mehr?“ Dann verließ er das Zimmer. Doch etwas in diesem trostlosen Haus gab mir Hoffnung und brachte Licht in die Dunkelheit: ein DIN-A4-großes Jesus-Bild! Ich schaute es immer genau an und fragte mich, wer dieser Mann ist, wieso er so liebevoll schaut und wieso er Löcher in den Händen hat. Meine Großmutter und meine Tante erzählten mir, wer Jesus ist und ich versuchte, alles über diesen Mann zu erfahren. Jesus wurde mein Freund. Je mehr ich von ihm erfuhr, desto mehr liebte ich ihn. Ich fing an zu beten, ihm alles zu erzählen, ihm zu vertrauen. Jesus wurde auch bespuckt. Ihm fühlte ich mich ganz nah. Anspucken geht aus tiefster Verachtung hervor. Diese tiefste Verachtung trug er bis zum Hügel auf Golgatha. So trug ich auch meine erlittene Verachtung zu ihm hin. Er verstand mich. Beleidigungen, Ausgrenzung, Lieblosigkeit Als die Schule begann, wurde mein Leben noch schwieriger. Wer so ein Elternhaus hat, hat in der Schule nichts zu lachen. Beleidi- gungen, Ausgrenzung und Lieblosigkeit waren an der Tagesord- nung. Kam ich nach Hause, kamen die nächsten Schwierigkeiten in Form von Streit und Gewalt. Ich hatte keinen Rückzugsort. Nicht selten musste ich meinen Vater aus der Kneipe nach Hause holen. Er arbeitete nicht. Unendliche Male war ich deshalb dem Spott meiner Mitmenschen ausgesetzt, auch noch als Erwachse- ner. Trotz aller Demütigungen habe ich aber meinen Vater sehr geliebt, er war immer mein Held. Als mir bewusst wurde, dass sich mein Leben nicht bessern wür- de, entschloss ich mich mit neun Jahren, mir das Leben zu nehmen. Ich stand schon auf dem Bahngleis, als eine innere Stimme mir sagte: „Geh weg von hier, ich habe dich lieb und habe viel mit dir vor!“ Dieser Stimme folgte ich. Obwohl die Schwierigkeiten in den folgenden Jahren anhiel- ten, ließ ich mich nicht unterkriegen. Ich lernte die Kunst der Selbstverteidigung, um eines Tages die zu beschüt- zen, die sich selbst nicht beschützen können. Mit 18 Jahren lebte ich für einige Monate auf der Straße, weil ich die Verhältnisse zu Hause nicht mehr ertragen konnte. Ich kon- zentrierte mich schließlich auf mein Leben, eröffnete eine eigene Sportschule und machte mich mit einem Sicherheitsdienst selbst- ständig. Durch verschiedene Kontakte wurde ich Bodyguard und ein Kindheitstraum wurde wahr, als ich den weltberühmten ehe- Nicht selten musste ich meinen Vater aus der Kneipe nach Hause holen. u m 1 8 0 G r a d g e d r e h t U p s i d e d o w n – Foto: iStockphoto.com / Vintervit Gast- beitrag von Michael Stahl

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