MISSION weltweit – Ausgaben 2015
23 DAS EmpFEHLEn wir WEITErDENKEN >> GASTBEiTrÄGE Von VoLkEr kAu Er unD inGo ruST partner Verantwortung füreinander und für ihre Angehörigen. Familie ist der Ausgangspunkt jeder Gemeinschaft. Nach meinem Verständnis ist eine übergeordnete staatliche Ebene erst dann gefragt, wenn diese Einheit Aufgaben nicht selbstständig lösen kann. Gerade auch hier muss das Konzept der Subsidiarität gel- ten, in dem eine höhere Ebene erst dann eine Handlungsberech- tigung erhält, wenn die untere ein Problem nicht lösen kann. Dennoch oder gerade deswegen ist vie- les von dem, was in unseren Familien entschieden wird, politisch. Eine christliche Erziehung etwa ist Ausdruck einer politischen Entscheidung und bleibt nicht folgenlos für die Welt. Ich will damit ein Missverständnis ansprechen, dass nämlich eine klar definierte Grenze beste- he zwischen der Welt des Politischen, der gesell- schaftlichen Verantwortung und dem privaten Leben. Genauso wenig, wie sich Glaube, wie sich Religion auf eine private Ebene begrenzen lässt, genauso wenig kann man den Glauben von der Ge- sellschaft trennen. Im Gegenteil. Vergangene und aktive Diktaturen fürchten das Christentum wohl aus genau diesem Grunde und wenden viel Kraft dazu auf, Christen zu bedrängen und zu entmuti- gen. Sie fürchten den sich seiner selbst bewussten, befreiten Menschen. Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes beriefen sich auf die christlich-jüdische Tradition nach der gottlosen Barbarei des Na- tionalsozialismus. Dennoch gründeten sie in der Bundesrepublik nicht das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Unser Staat ist säkular und gleichwohl ohne die ethischen Grundlagen, die ihm aus der Religion, aus dem Christentum erwachsen sind, nicht zu denken. Ernst-Wolfgang Böckenförde, der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, hat dies in seinem berühmten Satz über die christlich-ethischen Grundlagen des freiheitlichen Staa- tes beschrieben. Böckenförde zufolge bedarf der – zwar weltan- schaulich neutrale – Staat dieser Grundlagen dennoch, da er sie aus sich selbst heraus nicht hervorbringen kann. Politische Praxis Glaube und die Führung eines Staates sind unterschiedliche Din- ge. In der Politik braucht es Macht, um gestalten zu können. Doch Macht ist verführerisch. Wer Macht besitzt, muss sich im- mer wieder fragen, ob er sie richtig nutzt. Die christliche Ethik kann hier eine wichtige Richtschnur sein, die angewandt werden will. Im Sinne der Nachfolgereligion können wir Christen uns darauf besinnen, dass wir es Christus gleichtun und Verantwor- tung für das eigene Leben übernehmen müssen, genauso wie für das Leben anderer. Daher darf man sicherlich auch als Christ politische Ämter ausüben. Natürlich wissen wir dabei, dass wir in der Nachfolge Christi immer unvollkommen bleiben werden. Das darf zwar keinesfalls als Freibrief für unsere Handlungen verstanden werden, bedeutet aber gleichwohl eine gewisse Er- leichterung unseres Gewissens. Die Fähigkeit zum Kompromiss ist eine wichtige Tugend des Menschen. Kompromisse zu schließen ist das tägliche Geschäft in der Politik, die ja immer die Kunst des Möglichen bedeutet. Wer als Christ politische Verantwortung übernimmt, muss mit einem schmerzhaften Dilemma leben: Es gibt manche Situationen, in denen ein Mensch, der in Verantwortung steht und Kompromisse schließen muss, schuldig wird. Ja: Wer handelt, muss manch- mal das Risiko auf sich nehmen, schuldig zu werden. Kompli- ziert wird es, wenn wir uns eingestehen, dass auch ein Unter- lassen, ein Nicht-Handeln Schuld nach sich ziehen kann. Ich bin überzeugt, dass wir handeln können und müssen, wenn wir unser Gewissen als Leitschnur bei der Abwägung von Entscheidungen nutzen. Mich trös- tet angesichts des Risikos, auch bei bestem Wollen fehlbar zu bleiben, die Gewissheit, in Christus auf- gefangen zu sein. Wir stehen in der Welt, und die Welt braucht unseren Einsatz. Das überwiegt jedes Dilemma. Beispielsweise liefert Deutschland Waffen an die kurdischen Peschmerga im Nordirak, in ein Krisen- gebiet, und bricht damit eine selbst auferlegte Be- schränkung – um die Möglichkeit der Abwehr der unvorstellbar grausam auftretenden IS-Milizen zu ermöglichen, die selbst Papst Franziskus fordert. Handeln in Verantwortung ist niemals leicht fest- zulegen. Was werden die Folgen unserer Entschei- dung sein? Und was wären die Folgen des Nichts- tuns? Rupert Neudeck hat einen Satz geprägt, der mir in diesen Tagen oft durch den Kopf gegangen ist: „Ich möchte nicht, dass Menschen sterben für die Reinheit meiner Philosophie, meines Pazifismus.“ Wir sehen beschämt auf das Elend der Flüchtlinge, die aus Af- rika, aus dem Nahen Osten nach Europa drängen. Zahlreiche Menschen sterben während ihres Versuchs, unseren Kontinent zu erreichen. Die Europäische Union unterhält eine eigene Grenz- schutzagentur, die oft zum Gegenstand bitterer Kritik genom- men wird. Und doch müssen wir ehrlich sein: Natürlich kann Deutschland nicht alle Flüchtlinge aufnehmen, die nach Europa wollen. Ist es verantwortlich, etwas anderes zu suggerieren? Wie können wir das Leiden und die Not der Menschen lindern, ohne unser eigenes Gemeinwesen zu überfordern und uns damit unfä- hig zu machen, selbst zu helfen? Mit unserem Handeln müssen wir die Gerechtigkeit im Blick behalten und dazu beitragen, dass die Gründe, die Menschen zur Flucht bewegen, beseitigt werden. Aus diesem Grund suchen wir beispielsweise auch nach Wegen der Hilfe in den Herkunftsländern der Flüchtlinge, etwa im Rah- men unserer Afrikastrategie. In der Diskussion über die Frage der Sterbehilfe, bei der Stamm- zellenforschung, beim Schutz des ungeborenen Lebens, aber auch bei der Mütterrente oder im Staatskirchenrecht: In vielen Fragen sind Entscheidungen und Regelungen zu finden. Diese werden nicht dadurch besser, dass sich Christen aus der Gesell- schaft zurückziehen. Im Gegenteil: Sie müssen ihr Engagement in Gesellschaft und Politik mit einer Betrachtung der Dinge, wie sie sind, beginnen – und darauf reagieren. Weiter auf der nächsten Seite O miSSion weltweit 11–12/2015 Wer als Christ politische Verantwortung übernimmt, muss mit einem schmerzhaften Dilemma leben: es gibt manche Situationen, in denen ein Mensch, der in Verantwortung steht und Kompromisse schließen muss, schuldig wird. Volker Kauder, mitglied des Deutschen Bundestages und Vorsitzender der CDu/CSu-Fraktion im Deutschen Bundestag FoTo: GÖTZ SChLeSer
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