MISSION weltweit – Ausgaben 2016

21 WEITErDEnKEn >> GAStbeitrAG Von Volker GÄCkle 2. Das Gutgemeinte ist nicht immer das Gute – die Starken und die Schwachen in Korinth Etwas ganz Ähnliches lesen wir im 1. Korintherbrief. Dort versucht Paulus in 1. Korinther 8 – 10 den Konflikt zwischen „Starken“ und „Schwachen“ zu klären. Die „Starken“ waren selbstbewusste, gebildete und leistungsstarke Menschen, die stolz auf ihre Bildung und ihr intellektuelles Erkenntnisvermögen waren und den Wunsch und Willen hatten, auch alle anderen Gemeindeglieder damit zu beglücken. Die Schwachen waren eine Anzahl von ehemals heidnischen Einzelpersonen. Sie waren nicht als Gruppe organisiert, hatten keine „Sprecher“ und Interessenvertreter in der Gemeinde und nur einen Fürsprecher: Paulus selbst. Ihr Grundproblem war ihr Gewissen. Sie waren früher Heiden gewesen (1. Korinther 8,7: „bisher an die Götzen gewöhnt“), und in der antiken Kultur war es üblich, dass beim Schlachtvorgang von Tieren heidnische Rituale vorgenommen wurden, die das geschlachtete Tier zu einem Götteropfer werden ließen, was aus Sicht von Juden und Christen ein „Götzenopfer“ war. Während sowohl für die Starken als auch für Paulus das Essen solchen Fleisches an sich kein ethisches Problem war, weil „die Erde und alles was darin ist, Gott gehört“ (1. Korinther 10,25–27), betrachteten die Schwachen das Fleisch dieser Tiere als dämonisch kontaminiert*. Die „Starken“ konnten über so viel Naivität und Unwissen nur den Kopf schütteln und versuchten, mit den schwachen Schwestern und Brüdern zu „trainieren“. Sie dachten, wenn man den Schwachen die Dinge nur noch einmal richtig erklärt, ihnen die richtige „Erkenntnis“ vermittelt und dann das Essen des fraglichen Fleisches „übt“, dann würden sie es auch lernen und hätten bald auch kein Problem mehr damit. Das Ergebnis war eine Katastrophe: Die Schwachen wurden nicht stark, sondern irre an ihrem Glauben (1. Korinther 8,11–13). Paulus kritisiert die Starken entsprechend sehr scharf für diese Praxis. Für ihn lässt sich das „Problem“ der Schwachen nicht einfach abtrainieren, denn das Gewissen eines Menschen lässt sich nach seinem alttestamentlich-jüdischen Verständnis nicht einfach durch ein paar theologische Infos und Hinweise neu „einstellen“. Denn die Normen und „roten Linien“, die in unserem Gewissen verankert sind, wurden über ein ganzes Leben hinweg durch Erziehung, Kultur und Religion geprägt und können nicht einfach durch die Bekehrung zu Christus abgeschaltet oder umgeprägt werden. Wenn überhaupt, dann ist dies höchstens über einen längeren Zeitraum hinweg möglich. Mit ein paar Tricks und Kniffen erreicht man hier nichts, sondern richtet allenfalls Schaden an. Paulus plädiert deshalb für Rücksichtnahme. Auch wenn er selbst kein Problem mit dem Essen des fraglichen Fleisches hatte, ist die Abstinenz der Schwachen für ihn eine legitime christliche Haltung. Sie muss nicht korrigiert werden und kann kurzfristig auch nicht korrigiert werden. Die Schwachheit der Schwachen war für Paulus kein Problem. Das Problem war die Rücksichtslosigkeit der Starken, die mit ihrer an sich richtigen „Erkenntnis“ die anderen Gemeindeglieder zwangsbeglücken wollten – und genau das Gegenteil erreichten. 3. Der Fremde ist nicht der Schwache – nur anders! In diesem korinthischen Konflikt spiegelt sich auch ein Grundproblem der Begegnung zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen wider, deren Gewissen durch Erziehung, Kultur und Glaubensform beziehungsweise Religion sehr unterschiedlich geprägt wurde. Wenn zum Beispiel Christen aus einem russlanddeutschen Hintergrund auf die postmoderne christliche Jugendkultur in Deutschland treffen, entstehen diese Konflikte: Was für das Gewissen der einen „normal“ und „unproblematisch“ ist, überschreitet im Gewissen der anderen eine rote Linie, und wenn sie diese Linie überschreiten würden, stellt sich ein „schlechtes Gewissen“ ein, was von außen betrachtet als Schwäche erscheint. Wenn Menschen aus einem muslimischen Hintergrund Christen werden, entsteht ebenfalls immer wieder der Eindruck von Schwäche: Warum möchten sie denn immer noch kein Schweinefleisch essen? Warum legen ehemals muslimische Frauen auch als Christinnen den Hijab (die Kopfbedeckung) nicht ab? Für solche Konflikte brauchen wir viel Verständnis, viel Rücksicht und viel Geduld. Es geht hier immer wieder um schmerzhafte Prozesse, die uns aber weiterbringen, wenn wir sie aushalten und durchhalten. Wir müssen lernen, genau hinzusehen, um das Verhalten und die Reaktionen des anderen zu verstehen. Unsere Antworten können dann sehr unterschiedlich aussehen (siehe 1. Thessalonicher 5,14). Die Gemeinde und ihre Gemeinschaft wächst, wo wir Menschen in ihrer Eigenart wahrnehmen und entsprechend auf sie eingehen: Wer braucht den Holzhammer, wer braucht den Wattebausch, wen muss ich so tragen, wie er ist und wen muss ich verstehen von seiner Geschichte und seinem Hintergrund her? In dem Maße, in dem wir es lernen, andere und fremde Menschen zu verstehen, werden wir auch uns selbst und unsere Beziehungen besser verstehen. l miSSion weltweit 7–8/2016 Wer braucht den holzhammer, wer braucht den Wattebausch, wen muss ich so tragen, wie er ist und wen muss ich verstehen von seiner Geschichte und seinem hintergrund her? Prof. Dr. Volker Gäckle ist verheiratet mit bettina und Vater von drei kindern. er war von 1995 bis 2005 Studienassistent und -leiter für neues testament am Albrecht-bengel-Haus in tübingen und von 1998 bis 2006 im ehrenamt Vorsitzender des CVjm-landesverbandes Württemberg. nach einem jahr Pfarrdienst in Herrenberg war Volker Gäckle ab 2006 Direktor des theologischen Seminars der liebenzeller mission. Als Professor für neues testament ist er seit 2011 rektor der internationalen Hochschule liebenzell (iHl). Gastbeitrag von Volker Gäckle Gemeinde bauen Foto: LM-ArchIv * belastet

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