21 WEITErDENKEN >> SonDerbeitrAG von WilfrieD Sturm miSSion weltweit 9–10/2016 dass Notlügen in unserer Gesellschaft nicht pauschal verurteilt werden. Sie werden in der Regel dann toleriert, wenn sie einem anderen Menschen nicht schaden. Es gibt sogar juristisch legitimierte Notlügen: Bewirbt sich eine Frau für eine Arbeitsstelle und wird im Bewerbungsgespräch unerlaubterweise nach einer möglichen Schwangerschaft gefragt, so ist sie nicht verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. 3. Die Bergpredigt als Kontrastprogramm Vor diesem Hintergrund wirken die Worte Jesu in der Bergpredigt wie ein Fremdkörper, wie ein Kontrastprogramm. In Matthäus 5,33–37 sagt Jesus: „Ihr habt weiter gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst keinen falschen Eid schwören und sollst dem Herrn deinen Eid halten. Ich aber sage euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Thron; noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße; noch bei Jerusalem, denn sie ist die Stadt des großen Königs. Auch sollst du nicht bei deinem Haupt schwören; denn du vermagst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen. Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.“ Zunächst zeigen auch diese Sätze etwas von der Allgegenwart der Lüge in dieser Welt. Dietrich Bonhoeffer formuliert es in seinem Buch „Nachfolge“ so: „Der Eid ist der Beweis für die Lüge in der Welt. Könnte der Mensch nicht lügen, so wäre kein Eid notwendig. So ist der Eid zwar ein Damm gegen die Lüge. Aber eben darin fördert er sie auch; denn dort, wo allein der Eid letzte Wahrhaftigkeit beansprucht, ist zugleich der Lüge im Leben Raum gegeben. […] Darum muss der Eid fallen, weil er zum Schutz der Lüge geworden ist.“ 4 Nun geht es Jesus nicht um die Abschaffung des Eids vor Gericht. Man würde Jesus missverstehen, wenn man aus seinen Worten schließen würde, ein Christ dürfe vor Gericht keinen Eid ablegen. Gerade weil die Lüge eine Realität in dieser Welt ist, muss der Staat um der Wahrheit willen auf der Forderung des Eids bestehen. Aber zu seinen Nachfolgern sagt Jesus: Euer Wort sollte so zuverlässig und vertrauenswürdig sein, dass der Eid überflüssig wird. Warum? Weil seine Nachfolger etwas widerspiegeln sollen von der Zuverlässigkeit und der Vertrauenswürdigkeit Gottes. In Matthäus 5,48 sagt Jesus: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Dieser Vers ist wie ein Schlüssel zum Verständnis der Bergpredigt. Jesus möchte, dass seine Nachfolger transparent werden für das Wesen Gottes, für seine Liebe, für seine Treue, für seine Wahrhaftigkeit. Im Religionsunterricht soll es vorgekommen sein, dass ein Mädchen die Frage der Lehrerin, was denn ein Heiliger sei, mit folgendem Satz beantwortete: „Ein Heiliger ist einer, durch den das Licht des Himmels hindurchscheint.“ Das Mädchen hatte kurz zuvor mit seinen Eltern eine Kirche mit bunten Glasfenstern besucht, auf denen Heilige abgebildet waren. Fasziniert hatte sie beobachtet, wie das Licht von außen durch die Heiligenfiguren hindurchschien und die Farben zum Leuchten brachte. Deshalb: Heilige sind Menschen, die transparent sind für das Licht Gottes. Dazu gehört auch, dass wir durchscheinend sein sollen für die Wahrhaftigkeit Gottes. 4. Wahrheit im Alten Testament Die Wahrhaftigkeit Gottes begegnet uns schon im Alten Testament. In Psalm 31,6 betet David: „In deine Hände befehle ich meinen Geist; du hast mich erlöst, HERR, du treuer Gott.” Wörtlich steht da: „du Gott der Wahrheit“. Im hebräischen Urtext steht hier das Wort ämät. Es leitet sich ab von der Wurzel aman, die die Bedeutung von „fest sein, zuverlässig sein“ hat. Ämät ist also das Feste, das Zuverlässige, das, worauf ich mich verlassen kann. „Du Gott derWahrheit“ heißt: „du Gott der Zuverlässigkeit, du Gott, auf den ich mich verlassen kann.” Das ist sozusagen das „Markenzeichen“ Gottes: Gott ist ein Gott, auf den man sich verlassen kann. Der anfangs zitierte Vers aus 4. Mose 23,19 lautet vollständig: „Gott ist nicht ein Mensch, dass er lüge, noch ein Menschenkind, dass ihn etwas gereue. Sollte er etwas sagen und nicht tun? Sollte er etwas reden und nicht halten?“ Wenn das Alte Testament von Wahrheit spricht, dann geht es um mehr als um sachliche Richtigkeit, dann geht es um Beziehung, wobei die sachliche Richtigkeit damit nicht aus-, sondern eingeschlossen ist. Das wird deutlich in 5. Mose 13,13–19. Dort geht es um die Frage, wie sich die Verantwortlichen in Israel verhalten sollen, wenn ihnen das Gerücht zu Ohren kommt, dass eine ganze Stadt dem Götzendienst verfallen sei. Mose sagt, man solle die Sache gründlich überprüfen. Sollte sich dabei herausstellen, dass das Gerücht ämät ist, so sind entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Insofern kann ämat auch die Bedeutung von „Tatsache“ haben. 5. Wahrheit im Neuen Testament Werfen wir einen Blick ins NT. Das griechische Wort für Wahrheit lautet alätheia. Dieses Wort wird zwar oft – in Anlehnung an den alttestamentlichen Wahrheitsbegriff – ebenfalls im Sinne Wahrheit und liebe sind bei Gott keine Gegensätze. im Gegenteil, wo die liebe herrscht, da herrscht offenheit. Foto: iStoCkPHoto/CarloS Sirro 4 D. Bonhoeffer, Nachfolge, DBW 4 (41989), 131.
RkJQdWJsaXNoZXIy Mzg4OTA=