MISSION weltweit – Ausgaben 2017

20 l Egozentrik meint die Unfähigkeit, die Perspektive der Mitmen- schen einzunehmen. Man gibt sich selbst die gnadenlose Vor- rangstellung – nach dem Muster von Muhammad Ali: „Ich weiß nicht immer, wovon ich rede, aber ich weiß, dass ich Recht habe!“ Die Grenzen zwischen Mein und Dein zerfließen, meist zugunsten des MEIN. l Empfindlichkeit resultiert aus der Kindheit – womöglich von panischen Ängsten geplagt, nicht gut genug zu sein, nicht ge- nug geliebt und beachtet zu sein, zu wenig emotionales Futter erhalten zu haben. Diese Menschen wehren sich permanent ge- gen jede Missachtung, leben in Furcht vor Tadel und Zurecht- weisung, ertragen keine Kritik, weil das innerste ICH getroffen wird. Ihre größte Angst ist, nicht großartig, nicht besser … zu sein. Typisch ist auch der Wortschatz der Superlative; es wird überzeichnet und übertrieben, alles vergrößert. Durch Beobachtungen an Tieren konnten folgende interessante Erkenntnisse gewonnen werden: Es besteht auch bei Tieren ein Zusammenhang zwischen frühkindlicher Zuwendung und der späteren Fähigkeit, Stress zu verarbeiten. Je mehr mütterliche Zuwendung, desto weniger schüttete das Stress-Gen CRH im ausgewachsenen Zustand der Tiere Stresshormone aus. Statt- dessen produziert ein anderes Gen den Nervenwachstumsfaktor BDNF – beruhigt die Nerven. Trennung von der Mutter nach der WEITERDENKEN >> SONDERBEITRAG VON CHRISTIAN KIMMICH Geburt bedeutet für Jungtiere purer Stress, der sich nachhal- tig als sensibles Nervenkostüm entwickelt – schwer reparabel. Dasselbe trifft auf den Menschen zu. Man weiß heute, dass die Stimmung zwischen den Eltern die Gehirnentwicklung des Kin- des beeinflusst – so oder so nachhaltig. l Empathiemangel ist die fehlende Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen – ohne Vorbehalte, Gedanken und Gefühle anderer wahrzunehmen und zu akzeptieren, was die unerläss- liche Voraussetzung für Kommunikation und Achtsamkeit ist. l Entwertung : Weil der Narzisst ein so geringes Selbstwertgefühl hat, muss er ständig andere ab- und entwerten, um selbst oben zu bleiben. Er kann niemanden dulden, der etwas darstellt, muss stattdessen andere runtermachen und mobben. Eben dies kennzeichnet auch die Probleme in unseren Familien und Gemeinden, wo Besserwisser alles besser wissen, wo Grenzen zwischen Mündigkeit und Rechthaberei nicht mehr klar sind und wo Unterordnen gar nicht mehr geht. All dies sorgt für einen boomenden Markt an Achtsamkeitslite- ratur, Achtsamkeitsseminaren und Achtsamkeitsübungen – und dies aus unterschiedlichsten ideologischen und religiösen Rich- tungen. Schon 2008 lautete der Aufmacher in der Zeitschrift „Psychologie heute“: „Achtsamkeit – Entdecken Sie die bud- dhistische Anti-Stress-Methode“. Auch wenn viel Hilfreiches in diesen Methoden steckt, es bleibt dem Menschen nichts anderes, als auf sich selbst zu blicken, sich selbst zu finden, in sich selbst zu ruhen, also bestenfalls ein veredelter Narzissmus. Wirklich respektabel ist das nicht. 2. Respektvoll, weil in der Rückschau Gott ins Blickfeld kommt Je schonungsloser wir zurückblicken, je tiefer wir Einblick neh- men in den Schaden unserer Identität und die Unfähigkeit eines respektvollen Umgangs miteinander, desto heilsamer erscheint uns der Blick auf den Schöpfer und Erlöser unseres Lebens, der uns eine doppelte Würde und einen doppelten Wert schenkt: David staunt in Psalm 8 über die Würde der Erschaffung und Positio- nierung des Menschen, „wenig niedriger als Gott“ . Und Paulus staunt u. a. in Kolosser 1 über die Versöhnung und Rechtfertigung durch Christus, durch die wir makellos vor Gottes Angesicht stehen. Zu beidem war der Mensch selbst nicht fähig, beides ist Geschenk und Zuspruch. Wer aus diesen gesprochenen und in Jesus perso- nifizierten Worten des Lebens seine Identität ableitet, der ist an einer respektvollen Quelle seiner Identität. Dieser rote Faden der Achtsamkeit zieht sich durch das Alte und das Neue Testament, lädt ein und fordert heraus, sich seiner Wurzeln und Werte zu besinnen. So Mose in seiner gesungenen Predigt in 5. Mose 32,7: „Gedenke der vorigen Zeiten und hab acht auf die Jahre von Geschlecht zu Weder erzwungene Demut noch fromme Beliebigkeit unter dem Deckmantel reformatorischer Freiheit ergibt Stehvermögen. Wirkliche und gesunde Identität lässt sich eben nur sehr bedingt pädagogisch vermitteln. FOTO: ISTOCKPHOTO.COM/DETWE

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