MISSION weltweit – Ausgaben 2017

21 ten Verurteilungen, Vermutungen und Projektionen konfrontiert werden. Vor dem Hintergrund ihrer privaten Überzeugungen aus der Kindheit und daraus resultierender Projektionen auf den „bö- sen“ geschiedenen oder in Trennung lebenden Menschen führt zu Anklagen, die aber oft nicht offen ausgesprochen werden: „Du bist schuld. Hättest du besser für deine Frau/deinen Mann gesorgt. Was du da gemacht hast, darf nicht sein.“ Es können auch süffisante Nadelstiche sein: „Tja, wenn’s in der Liebe nicht klappt! – Selber schuld!“ Beispiele: Eine Frau leidet seit Jahren unter der emotionalen Abhängig- keit ihres Mannes von seiner noch lebenden Mutter, die ihn nie wirklich losgelassen hat. Sämtliche wichtigen Familienentschei- dungen müssen jeweils mit der Schwiegermutter abgesprochen werden, soll der Familienfrieden erhalten bleiben. Kommt nun eine solche Christin mit einer betroffenen Geschiedenen ins Gespräch, steht sie in der Gefahr, den ganzen Trennungs- und Scheidungsprozess vor diesem Hintergrund zu deuten und solche Konflikte als mögliche Ursachen in sie hineinzuprojizieren: „Das lag bestimmt an deiner Schwiegermutter!“ Eine andere Christin im Umfeld der Geschiedenen leidet unter der Neigung ihres Mannes, bei Konflikten aggressiv zu werden und auch körperliche Gewalt gegen sie anzuwenden. Sie ist sehr verletzt. Doch sie wehrt sich nicht, weil sie das so in ihrer Her- kunftsfamilie gelernt hat. Begegnet sie jetzt der betroffenen Ge- schiedenen, fällt sie vielleicht ein aggressives, moralisches Urteil über sie: „Scheidung, das ist von Gott verboten!“ Im Hintergrund ärgert sie sich womöglich, dass die Geschiedene etwas gewagt hat, was für sie selbst nie in Frage kommen würde. Reaktionen in der Gemeinde als Ganzes: Systemische Aspekte Scheidungen im säkularen Raum sind zum Alltag der Beziehungs- kultur geworden. Mediation, Scheidung bei notariell festgestell- ter Übereinkunft über Vermögen und Versorgung. Partnerschaft- liches Teilen des Sorgerechts bei den Kindern. Freundschaftliche Verbundenheit über die Scheidung hinaus. Dies sind erstrebens- werte Ideale geworden. Nun gelingt dies auch nicht immer, und Rosenkriege sind längst noch nicht ausgestorben. Anders in evangelikal geprägten christlichen Gemeinden und Werken. Scheidung darf nicht sein, und sie entspricht auch nicht dem Willen Gottes. Auch andere Dinge dürfen nicht sein wie lü- gen, hintenherum reden, sich gegenseitig bei verschlossenen Tü- ren „fertig zu machen“. Aber das eine ist öffentlich, das andere bleibt verborgen. Und das ist ein Unterschied. Schon in der christlichen Tradition wurde zwischen peccata ok- kulta (verborgene Sünden) und peccata revelata (öffentlich ge- wordene Sünden) unterschieden. Schuld und Sünde passieren in jeder Gemeinde und im Leben eines jeden Christen. Werden Tren- nung und Scheidung in einer Gemeinde bekannt, ist dies imUnter- schied zur verborgenen Sünde öffentlich und von hohem Interesse in der Wahrnehmung einer Gemeinde. Gehören die Betroffenen auch noch zum Kreis der verantwortlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, braucht es eine Stellungnahme der Verantwort- lichen und die Erklärung der Betroffenen. Die Gefahr ist sonst groß, dass sich auch fromme Leute „das Maul zerreißen“. Wilde Spekulationen schaden den Betroffenen und der Gemeinde. Wie können Verantwortliche deeskalierend wirken, ohne die In- timsphäre der Betroffenen zu beschädigen? Patentrezepte gibt es kaum. Dennoch kann man sich an Leitlinien orientieren: Wilfried Veeser ist Pfarrer in dettingen unter teck (www.evkidettingen-teck.de) , arbeitet seit 30 Jahren als eheberater, trainer und supervisor (www.veeser.net) und leitet die bildungsinitiative für seelsorge und beratung e.V. (www.bildungsini- tiative.net) . mit seiner Frau dorothea ist er seit 36 Jahren verheiratet. WEITERDENKEN >> sonderbeItrag Von WILFrIed Veeser V Trennung von Gemeindehierarchie und Seelsorge an den Be- troffenen. Die Wahrnehmung der seelsorgerlichen Begleitung erfolgt am besten durch eine Person, die außerhalb der Ge- meinde- oder Werkshierarchie steht. Gleichwohl sollte sie zur Wahrnehmung dieser Aufgabe offiziell beauftragt werden. Das Seelsorgegeheimnis bleibt so in den Beratungen der Gremien eher gewahrt. Und noch ein Grund: Veränderungsprozesse in seelsorgerlichen Gesprächen haben eine andere Geschwindig- keit als das notwendige Handeln von Gemeindeleitungen und Verantwortlichen. V Konsenserklärungen statt Vorwürfe mit Schuldzuweisungen . Es ist besser, wenn Betroffene Einzelheiten ihrer Konflikt- und Verletzungsgeschichte Dritten nicht mitteilen. Erklärungen, die dem jeweils anderen Partner die alleinige Schuld zuwei- sen, führen zur Polarisierung in der Gemeinde. Welchem der beiden Betroffenen soll man glauben? V Dem gemeindeinternen öffentlichen Interesse Rechnung tragen . Wird eine Scheidung in einer Gemeinde öffentlich, braucht es auch eine öffentliche Erklärung. Vertrauen wurde enttäuscht, und diese Enttäuschung sollte anerkannt werden. Wenn zum Beispiel leitende Mitarbeiter von Scheidung betrof- fen sind, kann es auch hilfreich sein, dass sie ihr Amt zunächst ruhen lassen. V Solidarität mit den Sündern zeigen. In den Erklärungen und Stellungnahmen der Gemeindeleitung ist es wichtig, dass Sün- den nicht unterschiedlich gewichtet werden. Vor Gott ist ein der Öffentlichkeit verborgen gebliebener Steuerbetrug genau- so Schuld wie bekannt werdender Ehebruch. Sünde ist Sünde. Und alle leben von der gleichen Barmherzigkeit Gottes. Gelingt es, Verlautbarungen offen und ehrlich auch gegenüber einem möglichen eigenen Scheitern und gegenüber eigener Sündhaf- tigkeit zu formulieren, schafft dies mehr Solidarität unter den Sündern. V Geistliche Gemeinschaft erhalten. Betroffene sollten als Chris- ten erleben können, dass die Gemeindeleitung den Weg der Trennung und Scheidung zwar kritisch sieht, aber an der Bru- der- und Schwesternschaft festhält. Trennung und Scheidung sind kein Grund, die von Jesus gestiftete geistliche Gemein- schaft aufzukündigen oder Betroffenen quasi den Glauben ab- zusprechen. Fazit: Trennung und Scheidung kommen auch unter Christen vor. Wenn dies geschieht, sollten die Beteiligten weise vorgehen: nicht verurteilen, seelsorgerlich Betroffene begleiten und ihnen Raum geben, die nächsten Schritte durch ihr Leben im Aufblick zu Gott zu finden. Auch wenn man solche schweren Krisen letzt- lich nicht verhindern kann, kann durch gute präventive Arbeit mit Paaren manche Eskalation verhindert werden, weil die Paare plausible und wirksame Handwerkszeuge der Beziehungsgestal- tung erlernen. Danken werden dies letztlich die von Trennung und Scheidung betroffenen Kinder. Wilfried Veeser FOTO: PRiVaT mIssIon weltweit 9–10/2017

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