MISSION weltweit – Ausgaben 2017

19 Vorstellung vom mündigen Bürger, der über sich selbst frei ent­ scheiden darf, sich selbst verwirklichen soll und nur sich selbst Rechenschaft schuldet. l Es gibt keine allgemeingültigen Autoritäten. l Die Kirche und der Staat haben keine Moralvorschriften zu machen. l Man beruft sich nicht auf den „gesunden Menschenverstand“ (Menschen sind nun mal irrational). l Moralische Vorstellungen, die sich auf sexuelle Handlungen als solche beziehen, verschwinden aus den Gesetzbüchern und sind nicht nur juristisch irrelevant geworden (zum Beispiel Untreue, Pornographie). Dafür gibt es neue, strengere Regeln darüber, wie sexuelle Begegnungen zustande kommen: Die „Einvernehmlichkeit“ ist nun Gegenstand der Moral, also die Frage, ob Geschlechtspartner zustimmungsfähig sind und ob sie zugestimmt haben. So ist zum Beispiel Vergewaltigung in der Ehe seit 1997 eine strafbare Handlung. l Ein starker Staat ist eine Gefahr. l Wissenschaft und Technik könnten die Menschheit ausrotten. Die Postmoderne ist eine logische Folge davon, dass die moderne Gesellschaftsordnung mitsamt Staat, Kirchen, Wissenschaft und Politik moralisch gescheitert ist. Grausame Kriege mit Millionen von Opfern, Massenmorde in staatlichen Tötungslagern, globale weiterdenken >> sonderbeitrag von ulrich giesekus Armut und Hungerkatastrophen trotz unendlichen Reichtums, menschengemachte Umweltkatastrophen; im Kleinen: häusliche Gewalt und sexueller Missbrauch in bürgerlichen Familien, kei­ ne Gleichberechtigung, Machtmissbrauch. Der Glaube an die gut geordnete Gesellschaft starb in Verdun und Auschwitz, in Hiro­ shima, im Gulag, in Vietnam und in Tschernobyl; er schmilzt mit dem Polareis dahin und verzweifelt mit jedem Kind, das vom Jugendamt in Obhut genommen werden muss. Institutionen haben versagt. Kirchen haben Massenmördern und Menschenhändlern ihre Theologie geliefert, Bildungssysteme waren willfährige Handlanger von Ideologien, Wissenschaft und Technik haben die Mittel bereitgestellt. Einzelne waren Helden durch ihren Glauben und ihren Mut. Sie sind Vorbilder – von John Newton bis Dietrich Bonhoeffer, Albert Schweitzer bis Mut­ ter Theresa. Also: Wenn Institutionen scheitern, muss der Ein­ zelne für sich entscheiden, was gut und was böse ist. Jeder muss seine eigene Moral haben. Und seinen eigenen Weg zur Seligkeit: Wir entscheiden, ob wir gläubig sind oder nicht, und wenn ja, wie. Mit dem Glauben verabschiedet sich die Wahrheit: Niemand hat einen Anspruch darauf, sie für sich zu beanspruchen. Jeder hat seine eigenen Wirklichkeitskonstruktionen: Was für dich wahr ist, muss für mich noch lange nicht stimmen. Leben im Hier und Heute Darüber mag man lamentieren oder sich freuen – wir drehen die Uhr nicht zurück. Und auch die, welche eine frühere gesell­ schaftliche Ordnung zurückwünschen, würden vermutlich nicht wirklich mit einer früheren Epoche der Geschichte tauschen wollen. Die 1950er-Jahre, in denen Trauma und Schuld im Wirt­ schaftswunder verdrängt werden; das „Dritte Reich“; die Kaiser­ zeit mit ihren ständigen Kriegen, der Industrialisierung und dem Armutselend der Arbeiter – keine echte Alternative. Vom Mittel­ alter ganz zu schweigen. Aber: Wir sind nicht sehr geübt darin, unser Leben selbstbe­ stimmt und eigenverantwortlich zu gestalten. Stellen wir uns also der Herausforderung! In Gemeinde, Verkündigung und Seel­ sorge, im Beruf und in der Gesellschaft: Wir müssen lernen, als Kinder unserer Zeit, zu verstehen, dass es die Zeit ist, in die Gott uns stellt. Eine Zeit, die auch ein Teil der Liebesgeschichte Gottes mit dem Menschen ist, wie es jede Zeit war. Und sie bietet Chancen: Je weniger Orientierung Institutionen und Organisationen geben können, desto mehr suchen Menschen nach Identität und authentischer Begegnung. Die „Offenheit für alles“ schließt auch eine Offenheit für die Begegnung mit dem Glauben an Jesus ein. Die Postmoderne ist postchristentümlich, aber auch postsäkular: Kirche als bestimmende Institution ist out, aber Spiritualität ist in. Sexualethik als Zeigefingermoral ist mission weltweit 5–6/2017 Je weniger Orientierung Institutionen und Organisationen geben können, desto mehr suchen Menschen nach Identität und authentischer Begegnung. Die „Offenheit für Alles“ schließt auch eine Offenheit für die Begegnung mit dem Glauben an Jesus ein. Sonder- beitrag von Ulrich Giesekus Foto: istockphoto.com/ralfgosch

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