MISSION weltweit – Ausgaben 2017
20 bedeutungslos, die Sehnsucht nach gelingenden Bindungen ist riesig, und die Frage nach dem Wie ist hoch aktuell. Der „Plan A“, die eine, einzig richtige Entscheidung im Beruf, in der Liebe, im Glauben wäre zwar schön – aber was wir brauchen, ist ein barm herziger und gnädiger Weg mit „Plan B“. Ganzheitliche Orientierung Die Komplexität unserer Welt lässt es nicht zu, die meisten Ent scheidungen mit Sicherheit zu fällen. Wer weiß, ob es im radi kalen digitalen Wandel meinen Beruf in fünf Jahren überhaupt noch gibt? Wer weiß, ob meine Kirche nach dem nächsten Pas torenwechsel noch meine geistliche Heimat sein wird? Wer kann schon garantieren, dass die eigene Ehe oder die Ehe der Kinder gelingen wird? Wie werde ich reagieren, wenn ein Kind mir den gleichgeschlechtlichen Partner vorstellt und zu Weihnachten mit bringen möchte? Oder in der Gesellschaft und Politik: Ob ich in vier Jahren noch die gleiche Partei wählen werde? In der Moderne war die übliche Vorstellung, dass das Leben relativ vorhersehbar sei – mit Krankheiten, Kriegen und Naturkatastrophen musste man immer rechnen, aber ansonsten galt das Eisenbahn-Mo- dell: Wenn ich in Stuttgart um 17:25 Uhr auf Gleis 5 in den ICE gestiegen bin, komme ich um 18:52 Uhr in Frankfurt an. Wenn du auf derrichtigenSchieneinderrichtigen Richtung unterwegs bist, kommst du ans richtige Ziel. Mach eine Aus- bildung, sei fleißig, dann hast du beruflichen Er folg. Finde eine/n gute/n Partner/in, gründe eine Familie, dann wirst du glücklich. Geh in die richti ge Kirche, dann kommst du in den Himmel. Heute stimmt das so nicht mal mehr für die Bahn fahrt, geschweige denn für das Leben: Wir sind auf einem Segelboot. Winde, Strömungen, Sandbänke und Untiefen sind unvorhersehbar.Man muss ständig Position peilen, ohne GPS läuft nichts, und man muss das Ziel im Auge behalten: Wo ich herkomme, ist für den Kurs unbedeutend; wichtig ist, wo ich hin will. Mein Job strandet amRiffwegen einer Banken krise oder dem Aktienhandel an der Börse. Ständige Fort- und Weiterbildung gehört auf jeden Fall dazu, sonst bin ich schnell draußen. Ob Ehe und Kindererziehung gelingen, weiß kei ner mit Sicherheit; aber wir müssen auf jeden Fall Augen, Ohren und Herzen offen halten, um Störungen schnell zu merken. Prof. Dr. Ulrich Giesekus, * 1957, unterrichtet Psychologie, Seelsorge und Beratung an der Inter- nationalen Hochschule Liebenzell (IHL) und führt eine Beratungspraxis in Freudenstadt. Privat wird sein Leben durch Ehefrau Heidrun, vier Kinder und Schwiegerkinder, und fünf Enkel reich gemacht. Foto: privat weiterdenken >> sonderbeitrag von ulrich giesekus Auch im persönlichen Glaubensleben: Gott ist ewig und immer derselbe, aber ich bin unterwegs und ständig im Prozess. Mit 20 wusste ich noch (fast) alles, mit 40 vieles nicht mehr so genau, jetzt bin ich 60, und die Freude an der Gnade, der Liebe und Barmherzigkeit Gottes, die sich in Jesus offenbart, bestimmt mei nen Glauben mehr als das Denken in Kategorien von richtig und falsch. Was nicht heißt, dass die persönliche Theologie beliebig geworden wäre. Ziele in den Blick bekommen Weil wir uns ständig neu positionieren müssen, reduzieren vie le die Komplexität des Lebens, indem sie sich selbst reduzieren. Sie leben zum Beispiel „verkopft“ nach rationalen, vernünftigen, menschlichen Vorgaben. Andere reduzieren sich auf Emotionen und ihr „Bauch-Gefühl“. Manche Christen dagegen vergeistlichen die Welt und versuchen denkfaul, aber verzweifelt, von Gott irgendeine Art von innerer Klar heit zu bekommen, wo sie in Wirk lichkeit Risiken eingehen, mutig entscheiden und aktiv gestalten müssten. In Wirklichkeit sind alle drei Ebe nen wichtig: Der Intellekt , der sich informiert und die Fakten checkt, zu nüchternen Einschätzungen kommt, sich mit Experten berät und begründen kann, warum man zu welchen Schlüssen kommt. Dann die Intuition, die ein feines Gespür für Zwischentöne und Emotionen entwickelt, die nicht mit logischen Gedanken argumentiert, sondern eine andere Art der Intelligenz entfaltet; hier ist vieles nicht begründet verbal erklärbar. Und last, but not least: Die Inspiration, die im Gebet und in der Bibellese auf das Reden Gottes hört, Eindrücke an der Schrift prüft und sich dabei ganz sicher ist: Gott selbst redet und handelt in das Leben seiner Kinder hinein. Neben einem fleißigen Intellekt, einer geschulten Intuition und einer gläubigen Inspiration gibt es noch ein viertes „I“, das man nicht vergessen darf: den Irrtum . Er ist immer möglich. Ich kann etwas intellektuell falsch einschätzen, ich kann intuitiv daneben liegen, und – das ist für manche Christen wichtig: Auch wenn Gott sich nicht irrt, meine Inspiration kann einer fixen Idee entstammen und ich kann mich auch im Hören auf Gott irren. Orientierung? Ja! Im demütigen Hören auf Gott und sein Wort, im selbstbewussten Nachspüren der eigenen inneren Stimmen und Stimmungen und in der kontroversen Diskussion mit Fakten und Informationen. Das braucht Beziehungen und Kommunikati on, Veränderungsbereitschaft, die Fähigkeit zur Korrektur – und Mut. Und das geht leichter im Glauben an einen Herrn, der ge sagt hat, dass er uns vorausgeht und mit uns ans endgültige Ziel kommen wird. Ganz sicher. Prof. Dr. Ulrich Giesekus l Neben einem fleißigen Intellekt, einer geschulten Intuition und einer gläubigen Inspiration gibt es noch ein viertes „I“, das man nicht vergessen darf: den Irrtum. Foto: albrecht arnold
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