20 eingehegt, und die meisten waren froh, wenn sie darüber dann weiter keine Auskunft geben mussten. Zumindest in der Generation der jetzt über Fünfzigjährigen war „das macht man nicht“ wohl der am häufigsten gehörte Satz, wenn man im kindlichen oder frühpubertären Entdeckungseifer seine Geschlechtsorgane (oder die der Geschwister oder Schulfreunde) zu erkunden versuchte. Auch in diesem Bereich gehen wir selten ins Detail, weder als Eltern, noch als Ehepaare, noch im Freundeskreis. Wir tauschen uns nicht darüber aus (okay, vielleicht nur manche von uns über Fünfzigjährigen nicht; was die Jüngeren auf ihren Social Networks und mit ihren Apps so alles anstellen, wissen wir nicht und wollen es in der Regel auch nicht so genau wissen), wie genau wir Sex mit unserem Ehepartner haben; wir holen uns wenig Rat im Gespräch mit Freunden oder in der Familie, und auch Kinder wollen in der Regel nichts Genaues darüber wissen, was ihre Eltern im Schlafzimmer machen. Das ist einerseits für uns alle normal, aber aus der Distanz betrachtet doch auch sehr ungewöhnlich. Wir bringen unseren Kindern eigentlich alles fürs Leben Wichtige bei, indem wir es ihnen zeigen. Aber wir zeigen unseren Kindern nicht, wie zwei Menschen miteinander Sex haben, wir zeigen ihnen nicht, wie man Kinder zeugt, obwohl das nichts Negatives ist, sondern das erste Gebot überhaupt (1. Mose 1,28). Hier berühren sich die Begriffe von Tabu, Scham und Scheu. Alle diese Begriffe dienen dem Abgrenzen eines Terrains, das wir nicht betreten wollen, weil wir uns darin unsicher fühlen. Das kann dazu führen, dass Menschen mit ihrer Not allein bleiben, weil sie sich nicht trauen, darüber zu reden, oft nicht einmal wissen, wie sie das Empfundene in Worte fassen sollen. Bei solchen „heiklen“ Themen akzeptieren wir Tabus, aber nicht in erster Linie, weil sie uns intuitiv einleuchten, sondern weil ihre Nichtbeachtung uns unsicher macht. Wir könnten uns „eine Blöße geben“ (wieder eine Wendung, über die es sich nachzudenken lohnte), wenn wir das Thema ansprechen. Solche uns im Alltag begegnenden Tabus und die Art und Weise, wie wir damit umgehen, lassen sich in dreifacher Weise ordnen: Da sind zum einen die Bequemlichkeitstabus Mit ihnen vermeidet man unangenehme Gespräche und Situationen. In frommen Kreisen gehört dazu insbesondere das Thema Geld: „Über Geld spricht man nicht“ – und, so fügen dann die Vermögenderen hinzu (meist in Gedanken oder scherzhaft gemeint): „Geld hat man.“ Was machen aber die, die keines haben? Oder zu wenig? Oder die (meinen) zu wenig zu haben, weil die anderen nicht genug abgeben, wie es im spendenfinanzierten evangelikalen Raum ja nicht selten der Fall ist, wo Prediger und Missionare mit einer gewissen Selbstverständlichkeit weniger verdienen als der vergleichbar ausgebildete Durchschnitt. Das Tabu greift meist gerade da, wo wir mit einem konkreten Gegenüber asymmetrisch über Geld reden wollen, sollen oder müssen: Die Bitte um eine Gehaltserhöhung; die Mitteilung, dass man an einer bestimmten Sache nicht teilhaben kann, weil es zu teuer ist; das stumme Ertragen des Taxiertwerdens, wenn das Outfit nicht den gehobenen Ansprüchen des Anlasses angemessen erscheint; das Wechseln des Themas, wenn der Vermögendere merkt, dass der andere sich im Gespräch zu einer Bitte um Geld vortastet. Weil solche Vorgänge peinlich sind, für beide Seiten, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise, darum lassen wir zu, dass dieses Thema schnell wieder verlassen wird. Die Bequemlichkeit liegt also auf der Seite derer, die die Macht haben, in diesem Fall Geld. Für sie ist es bequemer, wenn möglichst wenig über Geld gesprochen wird, weil dann niemand an ihr Gewissen oder ihren Geldbeutel rührt. Tabus sind also gut – aber nicht für alle. Für die Notleidenden ist es dagegen eher ein Verlegenheitstabu, das verhindert, dass sie hier nachhaken. Aber auch hier ist es manchmal Bequemlichkeit, die dem notwendigen Konflikt aus dem Weg geht. Dann gibt es die Verlegenheits- oder Schamtabus Das sind die Bereiche, über die man eigentlich reden will, weil es Nöte und Fragen gibt, die einen noch einmal ganz anders umtreiben und belasten als etwa finanzielle Sorgen. Das erleben viele im Bereich der Sexualität. Denn Sex ist einerseits ein Thema, das die Medien und öffentliche Aufmerksamkeit zu beherrschen scheint, andererseits gibt es kaum Möglichkeiten, persönlich, vertraulich, ehrlich und offen über die eigenen Wünsche, Nöte, Bedürfnisse, Fantasien, Ängste und Abhängigkeiten zu reden – weder in der Familie noch in der Gemeinde. Auch die Anonymität des Internets hilft hier nur bedingt, wenn es darum geht, ein wirklich ehrliches Gespräch zu führen. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ein solches Gespräch immer dazu führen kann, dass mein Gegenüber mich nach meinem eigenen Umgang oder Verhalten in einer bestimmten Situation fragt. Eine solche Frage ist unter Freunden und in der Familie prinzipiell erlaubt – das macht eben den Unterschied zu einem professionellen Gespräch mit Therapeuten, Seelsorgern, Psychologen und Psychiatern aus. Diese praktizieren eine „professionelle Distanz“, was vor allem heißt, dass sie das ihnen Anvertraute spiegeln und dazu verhelfen, dass die Ratsuchenden damit umgehen lernen; aber sie geben nicht Anteil an ihrem eigenen Erleben. Sie behalten, um im Bild zu sprechen, die Hosen an, während die Ratsuchenden die Hosen herunterlassen sollen. Diese Asymmetrie ist aber gerade nicht, was wir im Alltag suchen (auch wenn es in einer Krise oft der einzige Weg ist, um uns wieder funktionieren zu lassen). Was schützen also die Verlegenheits bzw. Schamtabus? Sie schützen das Miteinander in der Familie, in Freundschaften und Gemeinschaften. „Darüber kann man nicht sprechen“ – das hat durchaus seine Berechtigung, weil diejenigen, mit denen wir über unsere Not gerne sprechen würden, diese Not (oder Schuld, Sünde, Versuchlichkeit, Abhängigkeit) möglicherWas aber ist das Befreiende an dieser Botschaft? Es ist die darin begründete offenheit und die darin liegende Freiheit, nichts verbergen zu müssen, weil vor Gott schon alles offenbar ist. WeiTerDenKen >> sonderbeitrag von Prof. dr. roland deines FoTo: ATELiER ARNoLD/CCViSioN
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