19 das empfehlen wir mission weltweit 1–2/2019 macht krank. Nicht nur „ein bisschen depri“, sondern todkrank: Herzinfarkte, Schlaganfälle, Krebserkrankungen, schwere Depressionen, Suchtstörungen – die ganze Palette. Das Einsamkeitsgefühl selbst ist dabei eigentlich nicht das Problem, sondern es ist lediglich der Indikator für eine Bedrohung – etwas, was wir in der Natur nicht überleben könnten: soziale Isolation. Gefühle sind die Lämpchen im Cockpit. Da gibt es grüne, die anzeigen, dass alles gut läuft: zum Beispiel Freude, Zufriedenheit, Dankbarkeit, Versöhnung. Es gibt gelbe, die einen Handlungsbedarf anzeigen: zum Beispiel Langeweile, Unentschlossenheit, Lustlosigkeit. Und es gibt rote, die ein Problem anzeigen. Dazu gehören Angst, Wut, Schuld, Schmerz und Trauer – und definitiv auch die Einsamkeit. Wie die Angst uns vor Gefahren warnt und Schuldgefühle darauf hinweisen, dass wir zwischenmenschlich etwas klären müssen, zeigt Einsamkeit, dass wir in Gefahr sind, die nötigen Beziehungen zu verlieren oder gar nicht erst zu entwickeln. So wie Schmerzen uns vor körperlichem Schaden schützen, soll das Einsamkeitsgefühl uns vor der Vereinsamung schützen. Und es liegt – wie gesagt – hirnphysiologisch ganz nahe an anderen Schmerzen. Genauer: Einsamkeit ist ein Schmerz, und wir sprechen nicht umsonst vom Abschiedsschmerz, Trennungsschmerz oder Heimweh. Kurioserweise helfen sogar manche Schmerzmittel gegen die Einsamkeit (sind aber wegen der Nebenwirkungen keine sinnvolle Behandlung). Und wir wissen, dass einsame Menschen sehr viel häufiger schmerzmittel- und alkoholabhängig sind als sozial integrierte. Nähe, Freundschaft und Besuche am Krankenbett reduzieren den Schmerzmittelbedarf bei körperlichen Schmerzen erheblich. Überhaupt wirken Beziehungen in jeder Hinsicht förderlich bei Genesungsprozessen. Selbst das Denken an Familie und Menschen, die mich lieben, ist schon eine heilsame Erleichterung. Beziehungspflege: auch eine Form der Selbstversorgung Überhaupt ist das Eingebettetsein in eine Gemeinschaft für das Glück, für die Gesundheit und für die Lebenserwartung der wichtigste Faktor. Als Wissenschaftler 1938 damit begannen, die Gesundheit von Harvard-Studenten zu beobachten, hofften sie darauf, Tipps für Glück und langes Leben zu bekommen – und haben mehr herausgefunden, als sie je zu hoffen wagten. In den 1970erJahren wurden auch „normale“ Bewohner der Stadt Boston hinzugenommen. Die Studie wird bis heute weitergeführt – und obwohl nur noch eine Handvoll der ursprünglichen Teilnehmer hochbetagt lebt, sind inzwischen die zweite und dritte Generation der Nachkommen in der Untersuchung. Die Ergebnisse sind erstaunlich: Cholesterin und Blutdruck, Sport und Ernährung sind zwar deutlich mit hoher Gesundheit im Alter verbunden, aber der größte Faktor sind die Beziehungen, in denen wir leben. Robert Waldinger, der jetzige Direktor der Studie, sagt dazu: „Das überraschende Ergebnis ist, dass unsere Beziehungen, und wie glücklich wir in Beziehungen sind, einen wirkungsvollen Faktor für unsere Gesundheit darstellen. Es ist wichtig, sich um den Körper zu kümmern, aber Beziehungspflege ist auch eine Form der Selbstversorgung. Das, glaube ich, ist eine echte Offenbarung.“2 Folgen der Vereinsamung Wir brauchen also unsere Mitmenschen – heute nicht mehr, weil wir sonst verhungern oder er- frieren würden oder uns gegen wilde Tiere ver- teidigen müssen wie frühere Generationen, son- dern weil wir auf Gemeinschaft angelegt und dazu geschaffen sind. Vereinsamung heißt: Unser Gehirn schaltet in den Stressmodus, der Blutdruck steigt, Stresshormone wie Adre- nalin und Cortisol steigen, mit allen damit verbundenen Risiken. Alles, was wir nicht zum Überleben brauchen, wird auf Sparflam- me gesetzt: Verdauung, Immunabwehr, sogar Wachstum. Der Not- fallmodus ist bei Lebensgefahr sinnvoll, und Einsamkeit ist für das Gehirn eine Form der Lebensgefahr. Die Folge sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Infekte und eine höhere Krebsrate. Die Zahl der Single-Haushalte nimmt stetig zu, ebenso der Bevölkerungsanteil, der in Großstädten wohnt, wo man viel häufiger fremden Menschen begegnet als auf dem Land. Das fördert das Einsamkeitsgefühl zusätzlich. Ein wichtiger Faktor ist auch der Konsum von Medien. Eine echte, freundliche Begegnung von Angesicht zu Angesicht löst positive Schutzimpulse aus. Ein Skype-Telefonat tut das weit weniger, Facebook und Twitter kaum, und die mediale Beobachtung von Beziehungen, an denen ich selbst nicht teilnehme („Lindenstraße“), bringt gar nichts. Um nicht missverstanden zu werden: Menschen sind – je nach ihrer Persönlichkeit – sehr unterschiedlich gestrickt in der Art und Weise, wie sie Beziehungen suchen, aber nicht in der Frage, weiterdenken >> sonderbeitrag von prof. Dr.ulrich gi sekus 2 The Harvard Gazette, April 2017. Übersetzung des Autors. foto: istockphoto/alex sava So wie Schmerzen uns vor körperlichem Schaden schützen, soll das Einsamkeitsgefühl uns vor der Vereinsamung schützen.
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