MISSION weltweit – Ausgaben 2019

19 mission weltweit 3–4/2019 ratlos Bitte nur kurz, neu und einfach! Das Problem ist nicht die Frömmigkeit, das Gebetsleben oder die (sozial-)missionarische Lei- denschaft dieser Generation – von allen diesen Elementen kann ich mir eine Scheibe abschneiden! Aber ein echtes Problem ist der biblische und christliche Analphabetismus, der sich daran bemerkbar macht, dass Texte nicht lang, nicht alt und nicht kompliziert sein dürfen. Bei diesen Kriterien scheitern nicht nur Liedtexte, die älter als 30 Jahre sind (von Manfred Siebald über Jochen Klepper bis Paul Gerhardt), sondern auch Bibeltexte, jedenfalls dann, wenn sie keine krassen Bilder oder Gleichnisse enthalten. Nun könnte man fragen, ob Bibellesen und Bibelkenntnis wirklich so wichtig für den christlichen Glauben ist, wie wir Älteren (ja, ich bin auch schon 54) es immer behaupten. Die Frage ist berechtigt. Schließlich hat die römisch-katho- lische und die orthodoxe Christenheit auch 2000 Jahre lang ohne größere Bibelkenntnis der Gemeindeglieder überlebt. Dort genügte es offensichtlich, dass nur der Bischof eine umfassendere Bibelkenntnis hatte. Für die Stabilität des Glaubens garantierten ansonsten das Bekenntnis, die Kirche, der Papst, der Klerus, der Gottesdienst, der Ritus und der Weihrauch. Vielleicht wird dies in der charismatischen Christenheit ähnlich sein: Für die Stabilität garantieren auch hier weniger das Lesen und die Kenntnis biblischer Texte als vielmehr geisterfüllte Leiter, geistgewirkte Erfahrungen und geistfokussierte Lobpreislieder. Prof. Dr. Volker Gäckle ist verheiratet mit Bettina und Vater von drei Kindern. Der frühere Studienleiter für Neues Testament am Albrecht-Bengel-Haus in Tübingen war ab 2006 Direktor des Theologischen Seminars der Liebenzeller Mission. Als Professor für Neues Testament ist er seit 2011 Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell (IHL). Foto: istockphoto/Ryan lane Bibelmüde Bibelbewegung Für den Protestantismus, den Pietismus und den Evangelikalismus ist der biblische und christliche Analphabetismus dagegen ein echtes Problem. Denn sie waren und sind Bibelbewegungen. Die Reformation wäre ohne die Wiederentdeckung, die Übersetzung und die Verbreitung der Bibel (in der Form des Buches!) undenkbar gewesen. Der Pietismus ist durch und durch Bibel- frömmigkeit, und der Evangelikalismus erwuchs aus einem Streit um die Bibel und ihre sachgemäße Auslegung. Für diese Bewegungen ist die Bibelmüdigkeit eine elementare Bedrohung. Es dürfte auch kein Zufall sein, dass diese Bedrohung gerade jetzt aufbricht. Die Jahre 1990 bis 2010 waren von der digitalen Revolution geprägt, die durch den Wandel von einer analo- gen Kommunikation (Brief, Artikel, Buch etc.) zu einer digitalen (Internet, Social Media, YouTube, Facebook, Twitter, Instagram usw.) gekennzeichnet sind. Buchverlage und Zeitungen können ein (Klage-)Lied davon singen. Die Form der Kommunikation verändert aber auch die Inhalte! Natürlich kann man die Bibel oder ganze Bücher auch per App auf dem Handy oder als E-Book auf dem Kindle oder iPad lesen. Aber wer tut dies noch? Das lebendige Wort lesen! Der kanadische Philosoph und Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan (1911–1980) hat genau auf diesen Punkt aufmerksam gemacht: „The Medium is the Message“ (Das Medium ist die Botschaft). Kurz gesagt: Es ist nicht belanglos, über welches Medium wir die Inhalte wahrnehmen, sondern das Medium selbst ist eine Botschaft und verändert die Inhalte und die Wahrnehmung von Wahrheit und Wirklichkeit. McLuhan prophezeite deshalb den Untergang des Protestantismus (und übrigens auch der Demokratie!), weil dieser wie keine andere christliche Konfession an ein „Buch“ und damit an ein analoges Medium gebunden ist. Ja, diese Entwicklung macht mich ratlos. Ich habe keine Idee, wie man diesemProblembegegnen kann, außer dem restaurativen, aber wohl wirkungslosen Appell: „Wir sollten wieder mehr Bibel lesen!“ Das Einzige, was ich habe, ist die Hoffnung auf einen Gott, der es immer wieder neu geschafft hat, sich mitzuteilen und sein Wort lebendig werden zu lassen. Volker Gäckle l Foto: fabian reinhardt

RkJQdWJsaXNoZXIy Mzg4OTA=