MISSION weltweit – Ausgaben 2020

10 darum geht’s mittlerer osten Mit diesen Fragen machte ich mich auf den Weg. Die Familie wohnt in einer Bauruine, außer Nadia drängten sich ihre vier Kinder um den kleinen Heizofen in der Mitte des Zimmers, in dem sie leben. Kaum saß ich, ging die Tür auf, und zwei Nachbarinnen kamen herein, mit wei- teren zahlreichen Kindern. Nadia kochte Tee. Wir waren noch beim Small Talk und dem gegenseitigen Kennenlernen, als eine der Frau- en, Hala, plötzlich anfing, laut zu schluchzen. „Ihre Tochter starb vor zwei Wochen“, erklärte mir Nadia. Hala weinte, sie würde sie so schreck- lich vermissen, ihre Umarmungen und ihre Küs- se. „Weine nicht, weine nicht“, versuchen die Frauen sie zu beruhigen, „Gott sei Dank für alles. Weine nicht mehr.“ Das zweijährige Mäd- chen hatte Fieber bekommen und war nach ein paar Tagen gestorben. „Weine nicht“, diese Worte taten weh, weil sie so schnell vom Schmerz zur Ruhe überleiten woll- ten. Nadia und die andere Nachbarin konnten Halas Tränen nicht ertragen. Es kam mir vor, als würde die Dankbarkeit Gott gegenüber als eine Art Knebel benutzt, damit die Trauer verstummt. Trost oder Vertröstung? „Weine nicht“, diese Worte trafen mich, denn genau das sagte Jesus auch zu der Witwe von Nain. Wie konnte ich diese Geschichte jetzt noch mit diesen Frauen lesen? Da fiel mir ein, was mir am Morgen noch aufgefallen war: Dass genau nach den Versen von der Totenauferweckung im Evangelium berichtet wird, wie Johannes der Täufer vom Gefängnis aus davon hört und seine Jünger mit seinen Fragen und Zweifeln zu Jesus schickt: „Bist du es, oder sollen wir auf einen ande- ren Erlöser warten?“ Johannes, der kurz darauf umgebracht wurde, und den Jesus nicht – noch nicht – von den Toten auferweckte. Kurzentschlossen las ich mit Nadia und ihren Nachbarinnen die Geschichte der Witwe von Nain und von Johannes dem Täufer. Wir rede- ten über das Mitleid, das Jesus fühlte, als er die Witwe sah. Und wie anders die Worte „Weine nicht“ sind, wenn sie jemand spricht, der ein- greifen kann und Heilung und neues Leben schenkt statt leeren Vertröstungen. Aber wir redeten auch darüber, dass es trotzdem unglaub- lich schwer ist, wenn wir selber wie Johannes erst mal kein Wunder erleben. Als ich vom Besuch aufbrach, baten Nadia und Hala, dass ich wiederkomme und mehr Geschichten von Jesus mit ihnen lese. Betrübten bei -stehen Mich beschäftigt, wie wichtig es ist, in schweren Zeiten ein paar Menschen zu haben, die mittrau- ern können. Paulus schreibt, dass ein Merkmal echter Liebe ist, dass wir uns nicht nur mitfreu- en, sondern auch mitweinen (Römer 12,9 –12). Die Gemeinschaft der Mitweinenden Ich wollte mit Nadia die Geschichte lesen, in der Jesus den einzigen Sohn der Witwe vor der Stadt Nain von den Toten auferweckt (Lukas 7,11-17). Vor dem Besuch bei der Flücht- lingsfamilie übte ich noch, den Text auf Ara- bisch vorzulesen, denn wie Nadia können viele Frauen aus den Dörfern kaum lesen, und lautes Vorlesen arabischer Texte gehört leider nicht zu meinen Stärken. Ob Nadia etwas von der Macht Jesu sehen würde? Würde sie mehr über ihn wissen wollen?

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