MISSION weltweit – Ausgaben 2020
20 weiterdenken >> sonderbeitrag zum thema von christoph raedel Jünger auf stürmischer See stellt Bullinger der Gemeinde als Vor- bild hin: „Sie zeigen keine Ungeduld, sie murren nicht wider ihren Herrn, sie schelten einander nicht, als ob der oder dieser daran Schuld habe. So sollen wir es auch in unseren Nöten tun.“ Schließlich blickt Bullinger auf Petrus, der sich von Jesus auf das Wasser rufen lässt. Bullinger verdeutlicht am Handeln Jesu, dass Gott nicht nur ein Helfer der Menschen im Allgemeinen ist, son- dern dass er jedem einzelnen Gläubigen beisteht. In aller Not auf Gott ausrichten Bullingers Predigt ist ein kraftvolles Zeugnis des Gottvertrauens. Sie lenkt die Herzen der Gemeinde auf Jesus Christus als ihren Herrn und Erlöser. Die Vorstellung, dass alles, was geschieht, im Letzten von Gott geschickt ist, trübt Bullingers Vertrauen auf den allmächtigen und gütigen Gott nicht, sondern stärkt es eher noch. In aller Not sollen wir uns auf Gott ausrichten, unser Leben ord- nen und einander beistehen, statt nach Sündenböcken zu suchen. „Warum“-Fragen können in die Irre führen Lässt sich diese Zuversicht auch 2020 als gute Nachricht verneh- men? Vielen wird heute der Gedanke befremdlich sein, dass Gott das Coronavirus geschickt habe, um die Menschheit zur Umkehr zu bewegen. Warum trifft Menschen eine schwere Krankheit? Warum stecken wir, ohne es zu wollen, einander an? Solche Fra- gen ziehen uns in den Bann. Doch die Botschaft von Jesus Chris- tus antwortet nicht einfach auf die Fragen, die wir mit uns her- umtragen, sondern sie richtet auch unser Fragen neu aus. Der Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) hat in seiner Auslegung der Schöpfungs- und Sündenfallgeschichte erklärt, weshalb die Warum-Frage keine dem Glauben gemäße Frage ist: Sie sucht einen anderen als den Schuldigen für das Leid. Sie sucht dieeigeneUnschulds erklärung, die Reinwaschung des Ich. Vom Glauben an Jesus Christus aus ist nicht nach dem Ursprung des Bösen zu fragen, sondern nach dessen Überwin- dung am Kreuz, nach der Vergebung der Sünden und der Versöhnung der gefallenen Welt. In der Begegnung mit Jesus Christus lernen wir, die der Wirk- lichkeit gemäßen Fragen zu stellen. Wir sind blind für das Wesentliche Das Kreuz Jesu durchkreuzt einige Überzeugungen, in denen wir uns ein- gerichtet haben: Die Geschichte der Menschheit ist nicht die Erzählung vom kontinuierlichen moralischen Fortschritt, von der Bildungs- und Lernfähigkeit der Menschen. Zwar geht es uns technologisch gesehen in einem atemberaubenden Tempo immer besser. Wir werden das auch bei der Entwicklung eines Impfstoffs gegen das Coronavirus erfahren. Aber nie gingen die Auffassungen in einer Gesellschaft weiter auseinander, wenn es um die Beantwortung der Frage geht: Was ist eigentlich gut? Genauer noch: Was ist das höchste Gut? Keine Spur davon, dass wir uns gesellschaftlich darauf eini- gen könnten. Ist die höchste Würde des Menschen darin zu sehen, dass sich kein Leben, und sei es noch so gebrechlich und krank, für sein Existieren rechtfertigen muss? Oder eher darin, dass ein Mensch in absoluter Selbstbestimmung über die Mittel und den Zeitpunkt seines Todes befinden darf? Der russische Schriftsteller Wladimir Solowjew (1853–1900) schreibt: „Ich bin der Meinung, dass der Fortschritt immer ein Symptom des Endes ist.“ Warum? Weil wir mittels unserer tech- nischen Vernunft zwar immer genauer zu unterscheiden lernen, was mehr und was weniger gut geeignet ist, unsere Ziele zu errei- chen, uns die Unterscheidung zwischen Gott und Geschöpf aber abhandengekommen ist. Wir sind blind für das Wesentliche. Das Coronavirus – ein Weckruf Gottes Ist die Corona-Pandemie also eine Strafe Gottes? Ich wäre sehr vorsichtig, darauf mit Ja zu antworten, weil wir dann auch gleich wissen wollen, ob Menschen, die die Folgen der Ausbreitung des Virus besonders hart trifft, auch besonders schuldig geworden sind. Doch Katastrophen wie eine Pandemie treffen ganze Gesell- schaften, auch wenn sie sich bei bestimmten Bevölkerungsgrup- pen wie Älteren und Menschen mit einer Vorerkrankung beson- ders stark auswirken. Eher schon sind nationale und mehr noch globale Krisen als ein Weckruf Gottes zu verstehen, der zur Besinnung und Umkehr ruft. Als Gesellschaft(en) sind wir Menschen miteinander verbunden, was sich im Guten wie auch im Leiden erweist. Als „hochstehende“Gesellschaften des Westens ernten wir dabei alle mitein- ander, was wir gesät haben, nämlich die Folgen der Ökonomisierung des Gesundheits- und Pflegesektors, der globalen Verkehrsströme oder der Privilegierung von Erwerbs- gegen- über Familienarbeit. Verheißungen von beständigem Wirtschaftswachs- tum und Wohlstandszuwachs zerplat- zen wie Seifenblasen. Gedenkstein vor dem Missions- haus in Bad Liebenzell: Christen sollen einander Lasten abnehmen (Galater 6,2). In aller Not sollen wir uns auf Gott ausrichten, unser Leben ordnen und einander beistehen, statt nach Sündenböcken zu suchen. Foto: Martin Haug y
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