MISSION weltweit – Ausgaben 2020
21 mission weltweit 7–8/2020 Prof. Christoph Raedel ist seit 2014 Professor für Systematische Theologie und Theologie- geschichte an der Freien Theologischen Hoch- schule Gießen. Er hat evangelische Theologie in Rostock, Halle (Saale), Cambridge (UK) und Reut- lingen studiert und ist Vorsitzender des Arbeits- kreises für evangelikale Theologie. Außerdem leitet er das Institut für Ethik & Werte in Gießen. Quelle: idea-Pressedienst, 17. März 2020, vom Autor überarbeitet Abdruck mit freundlicher Genehmigung Ein Weckruf verändert die Fragerichtung. Er will unser Interesse weglenken von der Suche nach dem Schuldigen, dem „Sünden- bock“ für das, was geschieht. Weg von der Erwartung einer Ant- wort auf die Warum-Frage. Es geht vielmehr um das Wozu. Wel- che Botschaft ist uns hier gesagt? Wofür kann diese Krise uns die Augen öffnen? Dazu zwei Gedanken: 1. „Wohlan nun, die ihr sagt: Heute oder morgen wollen wir in die oder die Stadt gehen und wollen ein Jahr dort zubringen und Handel treiben und Gewinn machen, und wisst nicht, was mor- gen sein wird. Was ist euer Leben? Dunst seid ihr, der eine klei- ne Zeit bleibt und dann verschwindet. Dagegen solltet ihr sagen: Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun.“ (Jakobus 4,13ff) Das Coronavirus bringt das öffentliche Leben zum Stillstand. Ver- anstaltungen werden abgesagt, Schulen geschlossen und Fußball- spiele finden vor leeren Rängen statt. Eine hochmobile Gesell- schaft fährt in den Stand-by-Modus herunter. Das gibt uns Zeit nachzudenken. Unsere Standardeinstellung ist dabei klar: Volle Kraft auf die Problemlösung. Treffen lassen sich auch online abhalten, jetzt vor allem Panik vermeiden und die wirtschaftli- chen Auswirkungen der Krise dämpfen. Keine Frage: Auch diese Überlegungen müssen sein, denn mit sinkenden Umsätzen stehen Arbeitsplätze und mit unsicheren Arbeitsplätzen Einkommen auf dem Spiel. Wir haben die Situation nicht im Griff Und trotzdem die Rückfrage: Ist die volle Konzentration auf die Problemlösung nicht auch Ausflucht, um der Einsicht in die eige- ne Ohnmacht auszuweichen? Hat es für unser Leben eine unse- ren Alltag bestimmende Kraft, darum zu wissen, dass unser bes- tes Bemühen nur Frucht bringt, „wenn der Herr will …“? Das viele, was als wichtig und dringend vor uns liegt, verstellt sehr schnell den Blick auf Gott, von dem „alle gute Gabe“ kommt (Jako- bus 1,17). Der christliche Philosoph Josef Pieper (1904–1997) drückte es so aus: „Die unsicheren Zeiten sind die sichersten; man erfährt, woran man ist mit der Welt.“ Uns enthüllt sich auf unan- genehm berührende, ja lebensbedrohliche Weise die Unsicher- heit unseres eigenen Daseins. Der Kontrollverlust über ein Virus, dessen Ausbreitung zu drastischen Maßnahmen zwingt, ist eine schwer zu ertragende Kränkung des spätmodernen Menschen. Bevor wir also fragen: „Hat Gott den Laden noch im Griff?“, soll- ten wir zunächst einmal eingestehen: Wir haben ihn jedenfalls nicht im Griff. 2. „Meine Seele ist stille zu Gott, der mir hilft“ (Psalm 62,2) Eine Pandemie bringt eine andere Logik hervor als ein Terroran- schlag. Nach einem Anschlag werden wir aufgefordert, zusam- menzurücken und uns nicht entzweien zu lassen. Bei einer Seu- che ist es anders. Denn für vom Virus Infizierte geht es in die Quarantäne oder auf die Isolierstation. Abstand halten ist ange- sagt, Umarmungen und Küsse werden zu Zeichen der Unvernunft. Und so wird es um eine wachsende Zahl von Menschen herum erst einmal still. Diese Stille kann unheimlich sein, und wir kön- nen ihr, mit dem Smartphone in Reichweite, auch gleich wieder entfliehen. Aber sollten wir das? Dietrich Bonhoeffer sagte in einer Predigt, dass wir die Stille fliehen, weil wir Angst haben, uns selbst zu entdecken, aber auch weil wir Angst haben vor Gott: „Wir fürchten uns vor solchen unheimlichen einsamen Begegnun- gen mit Gott und meiden sie darum, meiden schon den Gedanken an Gott, damit er uns nur nicht plötzlich zu nahe kommt.“ Bon- hoeffer verkennt nicht – schon damals, im Jahr 1928 –, dass es in einer von Termindruck und Beschleunigung geprägten Gesell- schaft schwer ist, zur Ruhe zu kommen. Doch wer sich dem Wort Gottes aussetzt, der wird erfrischt und gestärkt werden. Die See- le erfährt die Stille, „die in der Liebe Gottes ruht, da schweigen in ihr Nöte und Sorgen, Unruhe und Hast, Lärm und Geschrei, Tränen und Angst, sie ist stille geworden zu Gott, der hilft“, schreibt Bonhoeffer. Das ist nur erfahrbar für den, der sich darauf einlässt. Wie soll das alles enden? Wer sich in Gottes Geschichte mit dieser Welt hineinnehmen lässt, der wird im tieferen Sinne des Wortes Realist: Er lernt den Unterschied zwischen Ende und Ziel kennen. Diese Welt wird an ihr Ende kommen, aber ihr Ziel hat sie in einem neuen Himmel und einer neuen Erde. Das Ende wird, davon spricht die biblische Apokalyptik in eindringlicher Bildsprache, katastrophische Züge tragen. Aber es wird zugleich ein Anfang sein, für ein Jenseits die- ser Welt, in dem Leid und Trübsal überwunden und der Tod nicht mehr sein wird. Dass diese Welt an ihr Ende kommen wird, ist paradoxerweise nicht Unheilsankündigung, sondern Ansage von Heil. Die Hoff- nung darauf, dass Gott alles neu machen wird, macht fähig, sich nüchtern und gelassen an die uns gestellten Aufgaben zu bege- ben. Das kann bedeuten, als Ärztin oder Pfleger das Erforderliche zu tun, als Politiker weise Entscheidungen zu treffen oder den eigenen Angehörigen oder Nachbarn zu helfen. Die Bereitschaft zu dienen, wo es nötig, oder auch sich abseits zu halten, wo es medizinisch geboten ist, wächst auf dem Boden einer Hoffnung, die darum weiß, dass am Ende Gott das Heil schafft. Denn die Katastrophe ist nicht das Letzte, Corona ist nicht König. l weiterdenken >> sonderbeitrag zum thema von christoph raedel Bevor wir also fragen: „Hat Gott den Laden noch im Griff?“, sollten wir zunächst einmal eingestehen: Wir haben ihn jedenfalls nicht im Griff.
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