MISSION weltweit – Ausgaben 2021

20 Foto: istockphoto/mccieb weiterdenken >> sonderbeitrag zum thema von prof. dr. ulrich giesekus Prof. Dr. Ulrich Giesekus, * 1957, unterrichtet Psychologie, Seelsorge und Beratung an der Internationalen Hochschule Liebenzell (IHL) und führt eine Beratungspraxis in Freudenstadt. Privat wird sein Leben reich gemacht durch Ehefrau Heidrun, vier Kinder und Schwiegerkinder und acht Enkel. Und etwas Zeit bleibt auch immer für Klavier, Motorrad und natürlich Freunde. 1 Siehe Wartenweiler, T. und Eiroa-Orosa, F.: „Effects of Spiritual Change on the Re-Entry Adjustment of Christian Young Adult Humanitarian Workers”, Journal of Pastoral Care & Counseling, Sage 2016, Vol 70(3), S. 176–185. foto. herrmann stamm Christus nimmt den Schmerz, das Leid und die Schuld – alles Ekelhafte – auf sich und macht sich solidarisch mit den Verachteten. Damit wird die Missachtung von Menschen zur Missachtung Gottes. Verachtung von Menschen verachtet Christus Wenn es stimmt, dass jede Verachtung von Menschen im Grunde Christus verachtet, dann kann ich mich nur schuldig bekennen. Ich sehe nicht in jedem Menschen das Ebenbild Gottes, das Gott so sehr liebt, dass er „seinen Sohn sandte, nicht auf dass er die Welt richte, sondern auf dass die Welt durch ihn errettet werde“ (Johannes 3,17). Solange ich mich für unparteiisch, vorurteilsfrei und gerecht halte, bin ich leider nur selbstgerecht. Aber es stimmt: Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung. Ein großes Geschenk, das viele missionarisch tätige Menschen durch die interkulturellen Begegnungen bekommen, ist die Heilung ihrer kolonialen, rassistischen und kulturellen Überlegenheitsempfindungen. Sie gewinnen Menschen lieb, die ganz anders denken, fühlen und leben als sie selbst. Sie respektieren und würdigen Fremde von ganzem Herzen. Und leider zeigen Forschungen an Heimkehrern, dass viele in ihrem Glauben dadurch so gewachsen sind, dass sie in der Heimatgemeinde nur schwer wieder heimisch werden.1 Begegnung ist der Königsweg des interkulturellen Lernens, so Dr. Stephan Schlensog vom Weltethos-­ Institut in Tübingen. Begegnung ist auch der Königsweg zur bedingungslosen Liebe, mit der Gott uns begegnet – und die uns „zu seiner Ehre“ (Römer 15,7) auch untereinander gut steht. Die größte Ekelschwelle Und das ist die Herausforderung für Christen: Ekelschwellen nicht zu verleugnen, sondern zu überwinden. Blinde Flecken nicht verschämt zu schützen, sondern ans Licht zu bringen. Genau – hier geht es um den Splitter und den Balken. Ein gesundes, geistliches und seelisches „Immunsystem“ setzt sich gegen Sünde zur Wehr. Doch der Satz „Gott liebt den Sünder und hasst die Sünde“ ist da vorschnell gesagt, wo wir damit nicht wahrhaben wollen, dass wir nur allzu oft die Sünde lieben und den Sünder verachten. Während ich das hier schreibe, brennt die zweite Kerze auf unserem Adventskranz. Wir feiern, dass Jesus Grenzen überschritten hat und Mensch geworden ist. Eine größere Ekelschwelle als vom Himmel in einen Stall ist kaum denkbar. Von diesem Kind in der Krippe will ich mich herausfordern lassen: Wo sind meine Ekelschwellen? Wie kann ich Menschen begegnen, die auf der anderen Seite dieser selbst gemachten Grenzen leben? „Mach es wie Gott – werde Mensch.“ l sich auch, dass Menschen Aspekte ihrer eigenen Psyche, die sie ablehnen, gerne auf andere projizieren. Für diese Feindbilder-Projektionen eignen sich Menschen am Rande der Gesellschaft, Machtlose und Schwache besonders. Zum Beispiel gibt es fromme Männer, die tief in Pornogewohnheiten verstrickt sind und ihre sexuelle Unmoral vehement im anderen bekämpfen. Diese Stellvertreterkriege lösen aber weder die eigenen Verstrickungen auf, noch helfen sie anderen, gerecht zu leben – im Gegenteil, sie schüren Hass und Ablehnung. Wenn dagegen die eigenen Mängel ans Licht kommen könnten („Wer von euch ohne Sünde ist …“), würde das Steinewerfen aufhören („Wo sind sie hin? Hat keiner dich verurteilt?“). Es ist immer die eigene Verunreinigungsangst, die den Ekel erzeugt. Und die Aufforderung „Geh hin und sündige hinfort nicht mehr“ wirkt nur, wenn sie nicht von den Steinewerfern kommt, sondern aus Liebe und Mitgefühl mit dem Leid der Betroffenen (vgl. Johannes 8,3–11). Göttliche Reinheitsgebote Auch im geistlichen Bereich gibt es gesunde Reinheitsideale. Im Alten Testament begegnet uns auf Schritt und Tritt die Verurteilung von Vermischungen – die Ehe und Tischgemeinschaft mit den Heiden, bis hin zum Mischgewebe aus Wolle und Seide. Strenge Speisegebote. Kultische Reinheit gilt hier als spirituelle Aufgabe, die allerdings bereits prophetisch angekündigt durch den Messias „für alle Völker“ weitgehend aufgelöst werden soll. In Christus ist nicht Mann oder Frau, Jude oder Grieche, Knecht oder Freier (Galater 3,28; Kolosser 3,11). Welch eine Zumutung für fromme und gottesfürchtige Juden, die über viele Generationen das göttliche Reinheitsgebot hochhielten. Im Neuen Testament wird Reinheit neu definiert. Petrus bekommt eine Vision von unreinen Tieren, die er essen soll, und versteht: „Mir hat Gott gezeigt, dass ich keinen Menschen gemein oder unrein nennen soll“ (Apostelgeschichte 10,28). Eine klare Abgrenzungsaufforderung wird aber zum Beispiel aufrechterhalten in Bezug auf Götzendienst und okkulte Praxis (2. Korinther 6). In Christus erfüllt sich die Prophetie aus Jesaja: Der „Mann der Schmerzen“ wurde „wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt; er war verachtet, und wir haben ihn für nichts geachtet“ (Jesaja 53,3). Solange ich mich für unparteiisch, vorurteilsfrei und gerecht halte, bin ich leider nur selbstgerecht.

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