19 liebenzeller mission aktuell mission weltweit 1–2/2022 weiterdenken >> sonderbeitrag zum thema von dr. ulrich und kersti wende verunsicherte erst einmal. Doch offen für die kommenden Chancen konnten wir nur werden, wenn wir das betrauerten, was wir aufgeben mussten – und es dann losließen. Mit der Freundschaft oder Liebe von Menschen ist es ähnlich. Nichts kann man hier erzwingen. Je stärker ich jemanden an mich binden will, desto eher werde ich ihn abschrecken. Je kräftiger ich ziehe, desto stärker wird er sich sperren – wie die Schublade eben. Als unsere erwachsen werdenden Kinder aus dem Haus gingen, war uns sehr bewusst, dass die Beziehung sich jetzt verändern wird – und muss. Es ist gesund und völlig in Ordnung, den Abschied zu betrauern. Aber der vergangenen Beziehung nachzutrauern würde uns blockieren. So wären wir nicht offen, dass sich – wenn die Zeit gekommen ist – eine neue Art von Beziehung aufbauen kann. Lernen vom Meister Die Lebenskunst des Freigebens können wir nirgends besser lernen als bei Jesus, dem Meister des Loslassens. Als er kam und einlud: „Glaubt an das Evangelium“, hat er Leben mit Gottesqualität in die Welt gebracht. Und wie wir darauf reagieren können, hat er mit diesem Satz zusammengefasst: „Wer sein Leben unbedingt bewahren will, wird es verlieren. Wer aber sein Leben meinetwegen und wegen der guten Botschaft verliert, der wird es retten“ (Markus 8,35). Jesus selbst hat diesen Grundsatz gelebt und sich darin bewährt. Folgen wir ihm einmal in die Wüste. Es muss einer der glücklichsten Momente seines irdischen Lebens gewesen sein. Ungefähr dreißig Jahre hatte er im Verborgenen gelebt, als Mensch unter Menschen. Dann war die Zeit reif, und er ließ sich taufen. „Das ist mein lieber Sohn. An ihm habe ich meine Freude“, rief Gott ihm dabei zu (Matthäus 3,17). Worte, die einem tief ins Herz fallen müssen! Auf diesem Gipfel des Glücks spürte er, wie Gottes Geist zu ihm sprach. Und zwar wollte er ihn in die Wüste führen. Jesus folgte. Entscheidung in der Wüste Vierzig Tage Einsamkeit, glühende Sonne, Hunger und Durst. Und dann die Stimme der Versuchung: „Nimm dir, was dir zusteht!“ (Matthäus 4,1–10). Was spricht dagegen, in der Kraft des Sohnes Gottes Steine zu Brot zu machen? Warum sollte er nicht die Hilfe der Engel abrufen, wenn er sich von der Zinne des Tempels stürzt und alle, die es sehen, Gottes Macht erleben? Und nicht zu vergessen die Aussicht, alle Königreiche der Welt zu beherrschen. Das ist doch seine Berufung als König Israels und als Herr des Kosmos! Steht es ihm nicht zu? Er hat doch gezeigt, dass er verzichten kann. Er hat die Herrlichkeit bei seinem Vater aufgegeben. Hat dreißig Jahre lang auf jedes Vorrecht verzichtet. Nun hat Gott ihn am Jordan öffentlich als seinen Sohn bestätigt. Wäre es da nicht recht und billig, zuzugreifen? Brot zu schaffen, Engelsdienste zu beanspruchen, alle Macht auf der Erde anzutreten? „Nimm dir, was dir zusteht!“ Doch Jesus trifft seine Entscheidung und greift nicht zu. Er lässt die Möglichkeit verstreichen, er lässt los. Und in dem Moment wird er frei. Die Stimme der Versuchung verstummt. Achten wir darauf, wie es weitergeht. Wie arm oder wie reich ist das Leben von jemandem, der konsequent losgelassen hat? Alles, worauf Jesus aus freien Stücken verzichtete, gewinnt er später! Der Engelsdienst wird ihm sofort geschenkt: „Da ließ der Teufel von ihm ab und Engel kamen und versorgten ihn“ (Matthäus 4,11). Steine zu Brot verwandeln? Viel besser – er wird aus fünf Broten und zwei Fischen Tausende satt machen, und Herzen aus Stein schafft er neu zu lebendigen Herzen. Alle Königreiche der Welt? „Mir ist alle Macht im Himmel und auf der Erde gegeben“, kann Jesus mit vollem Recht sagen, nachdem er gestorben und auferstanden ist (Matthäus 28,18). Der Kampf im Garten Das war ja der andere große Moment des Loslassens: sein Sterben. Die Entscheidung dafür fiel diesmal nicht in der Wüste, sondern im Garten. Dass der Kelch des Todes an ihm vorübergeht, das war sein leidenschaftliches Gebet. Jesus war sich im Klaren darüber, was sein Herz wünschte, und er unterdrückte diesen Wunsch nicht mit frommen Worten. Aber dann – ließ er los. „Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst“ (Matthäus 26,39). Wir wissen, wie es weitergeht. Für seine Entscheidung bezahlte er den denkbar höchsten Preis. Und gewann dann etwas unvergleichlich Größeres! Gott weckte ihn vom Tod auf, und damit entmachtete er den Tod ein für alle Mal und für alle Menschen. Der größte Sieg zwischen Himmel und Erde wurde errungen durch den größtmöglichen Verzicht. Das zeigt uns einen Grundsatz, den wir unser ganzes Leben lang festhalten sollten: Loslasser sind keine Verlierer! Jesus war es nicht, und wir werden es auch nicht sein, wenn wir ihm folgen. Loslasser sind Gewinner. Zwei Arten des Loslassens Was für Lebenssituationen sind es, in denen wir etwas loszulassen haben? Jeder dieser Momente ordnet sich in eine von zwei Gruppen ein. Es gibt Dinge, die wir entweder loslassen können oder loslassen müssen. In jedem Fall ist es wichtig, loszulassen. Bei der ersten Art könnten wir zwar etwas festhalten, aber das würde sich schädlich auswirken. Es wäre eine Belastung für uns selbst oder für andere. Bei der zweiten Art kommen wir gar nicht darum herum, loszulassen. Zu dieser zweiten Art gehören viele Momente, die das körperliche Leben als Mensch mit sich bringt. Als Säugling werden wir von der Nabelschnur abgeschnitten, wir verlieren später unsere Milchzähne. Im Alter lassen die Kräfte nach, die meisten sehen und hören schlechter und sind weniger beweglich. Der größte Sieg zwischen Himmel und Erde wurde errungen durch den größtmöglichen Verzicht. Foto: istockphoto/ziga plahutar Foto: marcus dall-col
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