MISSION weltweit – Ausgaben 2022

liebenzeller mission aktuell mission weltweit 11–12/2022 19 weiterdenken >> sonderbeitrag zum thema von prof. d . eva-mari jäger Foto: istockphoto/fizkes Versuch, Kontrolle über unkontrollierbare Situationen zu gewinnen, Macht über die schmerzliche Ohnmacht führt zu manchmal merkwürdigen Ritualen. Auch bei Menschen. An der Kontaktstelle zu Gott kann sich das auch in besonderer Weise ausdrücken: Angefangen beim Versuch Rahels, mit „Liebesäpfeln“ oder Alraunen Empfänglichkeit zu schaffen (1. Mose 30,14), über Wallfahrten, wie sie Wilhelm Busch bei der frommen Helene beschreibt, bis zu meiner Klientin und ihrer geheimen Abmachung mit Gott. Sie berichtet weinend, dass sie gehofft habe, dass Gott sie mit einem Kind von ihrem Mann belohne, nachdem sie es geschafft hatte, einer Urlaubsverführung standzuhalten. Noch dazu würde sie als hingebungsvolle Tante ihre Nichten und Neffen in den Ferien aufnehmen und unterhalten. Jetzt ist sie sehr enttäuscht, da der letzte Babyversuch wieder nicht geklappt hat. Sie bemüht sich, alles richtig zu machen – aber Gott? Sie wagt es nicht zu sagen – insgeheim denkt sie jedoch: Warum ist er nicht in Stellung? Wie kann er so ablosen1? Hat er kein Herz für sie? Ist sie am Ende nichts wert? Es passiert häufig, dass wir von Menschen enttäuscht sind. Aber auch von Gott? Hatte man zu hohe Erwartungen an ihn? Hatte man „zu groß“ von ihm gedacht? Wenn sich ein tiefer, unerfüllter Wunsch vor Gott schiebt, gibt es eine geistliche Aufgabe. Die Klientin kommt in diesem Fall zu mir und sucht mich eher in meinem Angebot als geistliche Begleiterin und Seelsorgerin auf und nicht als Psychotherapeutin – wobei das nicht immer so scharf zu trennen ist. Sie merkt, dass sie mit ihrer Einstellung Gott gegenüber an dem Ast sägt, auf dem sie sitzt. Aber sie kann auch nicht lügen. Die Vorwürfe, die sie in der Tiefe ihres Herzens an Gott richtet, blockieren gleichzeitig die Verbindung zu IHM, der doch im Grunde so lange ihre Zuversicht, ihr Trost, ja, ihre Lebensquelle war! Wie kann diese Verbindung wieder hergestellt werden? Wie findet sich ein neuer Weg zur Quelle ihres Lebens? Nehmen wir uns etwas Zeit, diesen Fragen nachzugehen. Was sind Enttäuschungen? Enttäuschungen sind Korrekturen von dem Bild, das ich mir von derWirklichkeit gemacht habe.Wie es der Begriff selbst beschreibt: Ich habe mich getäuscht und jetzt muss ich mich von der Täuschung verabschieden und mich auf die tatsächliche Realität einlassen. Das ist schmerzhaft. Es kann ins Klagen führen und das Gefühl hervorrufen, ein „Opfer“ zu sein, keinen Einfluss zu haben und innerlich passiv zu werden. Wenn sich diese Haltung zementiert und verfestigt, kann sich „Bitterkeit“ entwickeln. Dafür gibt es in der Psychotherapie mittlerweile sogar den Begriff der „posttraumatischen Verbitterungs-Störung“. Spätestens dann sollte man in Sorge um die eigene Seele nach Unterstützung schauen, denn „bittere Wurzeln können „aufwachsen“ (Hebräer 12,15) und sich weiter ausbreiten. Enttäuschungen sind auch die Folge eigener, persönlicher Erwartungen. Sie treten ein, wenn etwas, was ich erwartet habe, nicht passiert. Da ich bei meinen Erwartungen an das Leben ein „Wörtchen mitreden“ kann, bin ich auch an meinen Enttäuschungen mitbeteiligt. So leide ich nicht nur als „Opfer“, sondern auch als „Mit-Täter“. Schmerzen: selbst beteiligt oder hinzunehmen? Geistliche Begleitung dient diesem Sortieren der verschiedenen „Leidensformen“. Es gibt Schmerz, an dem ich selbst beteiligt bin und Schmerzen, die ich hinnehmen muss. Das zu sortieren ist nicht einfach, denn oft genug möchte ein verletzter Mensch nicht auch noch „selber schuld“ sein an seiner Misere. Das wäre ein weiteres, belastendes Päckchen, wo es ohnehin schon genug zu tragen gibt. Doch hier braucht es ein behutsames Einladen und Herantasten an den eigenen „Spielraum“, mit einer Situation so oder anders umzugehen und eben nicht von „Schuld“ zu sprechen, sondern eher von den Fragen: Was für einen Deutungsspielraum können wir vielleicht finden? Wo gibt es eigene Verantwortlichkeit? Wo habe ich den Schmerz vielleicht durch meine eigene Haltung verschärft? „Selbsteigne Pein“ nennt das Paul Gerhardt in der 2. Strophe des Liedes „Befiehl du deine Wege“. Wo mache ich mir solche zusätzlichen Schmerzen? Wie viel von meiner Enttäuschung über Gott ist „selbst gemacht“? Wachstumsschmerzen und Reifeprozesse Und was hingegen ist das Leiden, das ich annehmen muss, um daran auch zu reifen? Ein Schmerz, der meiner Seele nicht schadet und zu einem „Wachstumsschmerz“ werden kann? Die seelsorgerlicheWachstumsspur bei Enttäuschung kann in folgende Richtung gehen: Ich habe ein Recht auf meinen Wunsch. Er ist völlig in Ordnung, ja, ein Teil meiner Persönlichkeit. In unserem Fallbeispiel ist der nach Zwischen dem persönlichen „Recht“ auf meinen Wunsch als Teil von mir und dem Recht Gottes, anders zu sein, als ich ihn mir wünsche, geschieht etwas Wesentliches: Reifung. 1 Wer „ablost“, ist in einer Sache schlecht, versagt oder verliert.

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