MISSION weltweit – Ausgaben 2022

20 Prof. Dr. Eva Maria Jäger, * 1967, führt eine Praxis für Verhaltenstherapie in München (ab 2024 in Tübingen) und unterrichtete Psychologie, Seelsorge und Beratung an der Internationalen Hochschule Liebenzell (IHL). Sie ist verheiratet mit Tilman Jäger, Musikprofessor an der Hochschule in München, und hat einen Sohn, Jakob, Musiker am Kontrabass. Mit beiden macht sie sehr gerne Musik, außerdem liebt sie es, in der Natur unterwegs zu sein und über das Leben nachzudenken. weiterdenken >> sonderbeitrag zum thema von prof. dr. eva-maria jäger einem eigenen Kind sogar ein „biblischer“, ein natürlicher Wunsch. Doch er stößt an die Erfahrung und Wirklichkeit, dass Kinder nicht „verfügbar“ sind: Ich kann sie nicht erzwingen. Ich kann Gott, den Geber aller Gaben, nicht dienstbar machen für meine Vorstellung. Gott ist der „Unverfügbare“ – sonst wäre er nicht Gott. Genau in dieser Spur zwischen diesem persönlichen „Recht“ auf meinen Wunsch als Teil von mir und dem Recht Gottes, anders zu sein, als ich ihn mir wünsche, geschieht etwas Wesentliches: Reifung. Hilfreich in der geistlichen Begleitung ist das, was auch Hiobs Freunde sieben Tage lang taten: nicht viel zu machen, sondern da zu sein, absichtslos da zu sein, und mit dem anderen das Schweigen Gottes durch eigenes Schweigen auszuhalten. In dieser Stille, die miteinander geteilt wurde, begann sich die Wahrnehmung der Klientin zu verändern, von sich selbst und von Gott. Sich nicht im Kämpfen wund zu rennen und vom Schmerz abzulenken, sondern im Stillwerden wieder in Kontakt mit Gott zu kommen. Kampf und Geschenk, Dankbarkeit und Traurigkeit Meine Klientin erinnerte sich, dass sie am Ende ihres Lebens eigentlich sagen wollte: Das Leben ist nicht nur ein Kampf! Es ist ein Geschenk – und Gott hat mich beschenkt. Doch gerade davon fühlte sie sich im Augenblick weit entfernt: „Ich gehöre halt nicht zur Kategorie der beschenkten Menschen. Uns fällt es nicht in den Schoß! Was haben die anderen Menschen, die einfach so Kinder bekommen können, was ich nicht habe? Wie können sie so locker erzählen, dass sich einfach alles von alleine ergibt? Bei mir, bei uns fügt sich nichts!“ Sie hätte sich gerne dankbar gefühlt, war aber tieftraurig: Sich diese Traurigkeit einzugestehen und zu würdigen, war ungewohnt, aber wichtig: Dass ihr „kein Kind in den Schoß fiel“. Dass Kinder für sie scheinbar nur mit Manipulieren, Biegen, Beugen, Krümmen (Spritzen!) zugänglich sind. – Wenn sie sich ihrer Verzweiflung zu heftig überließ, merkte sie, wie die Verbindung zu Gott verloren ging: „Es ist, als stoße ich mir dabei den Kopf an seinem Fußschemel wund. In diesem Schmerz kann ich ihn dann gar nicht mehr wahrnehmen!“ Über Erwartungen nachdenken Die Klientin dachte über ihre Erwartungen nach: Habe ich ein „Recht“ darauf, Kinder zu bekommen? Habe ich überhaupt ein Recht auf Gut, Geld, Gesundheit, Gemeinschaft, Familie, Erfolge? Sie entdeckte, dass es kein Recht auf Erfolg gibt. Und dass sie ihre Erwartungen und ihre Selbstgerechtigkeit Gott gegenüber ablegen konnte und sich nicht über Gott stellen musste. Einige Hilfestellungen l Es ist hilfreich, nicht zu verallgemeinern, sondern nach Ausnahmen zu suchen: Wo erlebe ich mich als beschenkt von Gott? Wo bin ich nicht enttäuscht? Wo leuchtet in meinem Leben auch eine Spur der Freude auf? l Es ist befreiend, aus der „Komfortzone der Verbitterung“ herauszugehen und für neue Erfahrungen offen zu werden. l Es ist entlastend und erlösend, sein Schicksal anzunehmen. Es gibt kein Recht auf Wunscherfüllung und ein beschwerdefreies Leben. So viele biblische Entwicklungs(!)geschichten beginnen mit Krisen, Enttäuschungen oder Verlusten. Gott ist ein Freund der Verwandlung von Lebensgeschichten: aus verworfenen Steinen tragende „Ecksteine“ zu machen, aus einer nicht erfüllten Lebens-Leere Raum für neues, anderes Leben zu schaffen. Es ist das Vertrauen, das auch zu einer „radikalen Akzeptanz“ führen kann: Das anzunehmen, was da ist – und zu schauen, ob sich darin nicht ein kleines bisschen Licht finden lässt. „Reframing“ heißt dieses Umdeuten in der Psychotherapie. Und in der systemischen Beratung gibt es die Einladung, seine Lebensgeschichte jeden Tag anders erzählen zu dürfen. l Am Ende geht es nicht um Recht oder Unrecht, sondern um die Beziehung zu Gott, um eine neue Verbindung zum Vater, wie es sich im Dialog mit dem älteren, verlorenen Sohn in Lukas 15 zeigt. Mit jemandem zu „rechten“ ist nur eine Notlösung zum Reparieren von Beziehungen. Der Vater aber sucht den Kontakt zu seinem enttäuschten Sohn: „Du bist immer bei mir und alles, was mein ist, ist auch dein“ (Lukas 15,31). Und dann lädt er ihn ein, sich zu freuen und mit seinem Bruder zu feiern. Das sprengt alle bisherigen Konzepte ... Jahre später traf ich die Klientin wieder. Sie erzählte mir, dass ihre Enttäuschung gegenüber Gott immer wieder gekommen sei, sich aber überraschend und nachhaltig gelöst habe. Als sie in ihrem Bücherregal ein altes Kinderbuch vor sich sah mit dem Titel „Du groß und ich klein“, kam ihr schlagartig die Erkenntnis: „Das ist es! Ich bin klein, und er ist groß. Ich muss nicht groß sein, und ich muss nicht alles wissen. Und ich muss diese Warum-Frage nicht immer weiter stellen. Diese Frage ist mir zu schwer und bringt mich immer neu in Verzweiflung. Ich werde hier auf Erden keine befriedigende Antwort darauf finden. Mein Kopf wird mir schwer, ich grüble und komme nicht mehr zur Ruhe!“ Und dann habe sie sich so hingekniet, dass sie ihren schweren Kopf auf dem Boden vor sich ablegen konnte. Sehr passend sei das gewesen. Das Herz sei ihr leicht geworden. Als wäre sie jetzt am richtigen Platz, wie neu „aufgeräumt“. Als hätte sie endlich ihren Ruheplatz vor Gott wieder gefunden: sie klein – und er groß. Dieses Bild und das innere Körpergefühl, den schweren Kopf beim Knien vor Gott auf den Boden zu legen – das passte für sie so gut. Seither habe sich in ihr eine Ruhe ausgebreitet. Als hätte Gott selbst begütigend seine Hand über ihre angestrengte Seele gelegt und ihr gesagt: „Du musst das nicht alles wissen. Du musst nicht mit mir rechten. Das ist eine Kategorie, die tut dir nicht gut und sie trennt dich auch von mir. Der Kontakt zu mir ist etwas, was noch größer ist als die Geschenke, die du dir wünschst.“ l So viele biblische Entwicklungs(!)geschichten beginnen mit Krisen, Enttäuschungen oder Verlusten.

RkJQdWJsaXNoZXIy Mzg4OTA=