MISSION weltweit – Ausgaben 2023

18 liebenzeller mission aktuell weiterdenken >> sonderbeitrag zum thema von dr. christoph schrodt Ein tieferer Ansatz Damit sage ich nicht, dass die Idee hinter dem Berufungskonzept falsch ist. Es kommt etwas sehr Großartiges darin zum Ausdruck, und das müssen wir entdecken. Auf diese Weise können wir das Konzept vertiefen und die eben genannten Probleme entschärfen. Die Schöpfung wurde durch das „Wort“ geschaffen. Alles, was ist, verdankt sich der „Anrede“ durch Gott. Menschliches Leben ist kommunikativ angelegt – wir sind unserem Wesen nach auf „Antwort“ hin geschaffen. Menschsein erschöpft sich nicht darin, zu essen, zu schlafen, auszuscheiden, zu arbeiten, sich zu vermehren und am Ende abzutreten. Wir leben vor einem „Angesicht“, von Gott her und zu Gott hin. Sehr deutlich können wir dies bei kleinen Kindern beobachten. Sie wollen nicht einfach irgendetwas machen – sondern es vergehen kaum fünf Minuten, in denen wir nicht den Satz hören: „Papa, schau mal!“, „Mama, darf ich ...?“ Kinder wollen gesehen werden und suchen Bestätigung ihres Tuns und ihrer Existenz. Unsere Be-Rufung als Mensch liegt darin, mit unserem ganzen Leben der Gottes- und Menschenwürde zu ent-sprechen, die auf unserem Leben liegt. Unsere Be-Stimmung erfahren wir dort, wo wir nicht wie Pflanzen oder Tiere leben, sondern unser Leben als durch Gottes Gegenwart und Zuwendung be-stimmt erfahren. Auf dieser tiefsten Ebene haben alle Menschen eine Berufung – und zwar unabhängig davon, was sie konkret tun. Die Berufung übersteigt die konkrete TätigDie Berufung übersteigt die konkrete Tätigkeit. Sie ist nicht Berufung zu einem konkreten Tun, sondern das, was allem menschlichen Tun erst Sinn und Grund verleiht. Als Kind war ich mit meinen Eltern regelmäßig bei den Pfingst- und HerbstMissionsFesten der Liebenzeller Mission. Mit am meisten beeindruckten mich dort die Berichte der angehenden Missionare. Sie erzählten alle von ihrer „Berufung“ in die Mission. Das musste etwas Großartiges, Geheimnisvolles sein, wenn Gott zu einem sprach! Gewöhnliche Menschen kannten das nicht. Jedenfalls erzählte mein Vater nichts davon, eine „Berufung“ als Angestellter beim Arbeitsamt zu haben. Auch meine Mutter erwähnte nichts von einer „Berufung“ als Hausfrau. Das mussten besondere Menschen sein, denen so eine Gnade gewährt wurde. Jedenfalls war mir das Thema aus der Bibel bekannt; vor allem der kleine Samuel und der junge David boten sich hier als ideale Identifikationsobjekte an. So wollte ich auch werden! Ein fragwürdiges Konzept Theologisch und psychologisch verbinden sich mit dem Konzept der Berufung, wie ich es eben angedeutet habe, eine Reihe von Problemen: Zum einen schafft es tatsächlich so etwas wie eine geistliche Elite, die sich von den Normalos abhebt. Es gibt eben „Berufene“ – und den großen Rest. Der sogenannte „vollzeitliche Dienst“ wird damit überhöht und mit besonderen Weihen umgeben. Außerdem gibt es keine klaren Kriterien dafür, wie man einen solchen Ruf eindeutig identifizieren könnte. Es bleibt etwas Subjektives, manchmal Willkürliches. Man kann sich einen „Ruf“ so sehr wünschen, vielleicht unbewusst, dass man am Ende nicht mehr beurteilen kann, ob man sich selbst etwas eingeredet hat. Weiter: Ein bestimmtes Verständnis von Berufung kann Menschen entmündigen, weil sie die Verantwortung eigener Lebensgestaltung an eine höhere Instanz delegieren. Und schließlich kennen wir vermutlich Christen, die felsenfest davon überzeugt sind, einen „Ruf“ zu haben – aber alle Menschen aus ihrer näheren Umgebung teilen diesen Eindruck nicht und haben große Bauchschmerzen im Blick auf diese Person oder das Projekt. Sonder- beitrag von Christoph Schrodt

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