MISSION weltweit – Ausgaben 2024

20 Mitten in der Krise eine beziehungsstärkende Erfahrung mit Jesus Eine Geschichte im Johannesevangelium beeindruckt und berührt mich jedes Mal aufs Neue. Sie führt uns diesen beziehungsstärkenden Aspekt von ehrlich geteilten, in diesem Fall sogar negativ erlebten Emotionen deutlich vor Augen. In Kapitel elf lesen wir von den mutigen Schwestern Maria und Martha. Sie verdeutlichen uns eindrücklich, wie es aussehen und was daraus entstehen kann, wenn wir mit unseren Emotionen inmitten einer Krise nicht allein bleiben. Lazarus, der Bruder der beiden, ist krank, und obwohl sie Jesus rufen lassen, kommt er zu spät. Ihr geliebter Bruder stirbt. Eine echte Krise! Beide entscheiden sich dafür, ihre Gefühle in dieser Krise weder zu unterdrücken noch damit allein zu bleiben. Stattdessen nehmen sie mutig wahr, was sie in dieser Situation bewegt: Enttäuschung, Wut, Unverständnis. Und sie bleiben damit nicht allein, sondern benennen es und bringen es in Form eines ehrlichen Vorwurfs in die Beziehung mit Jesus. „Herr, wenn du hier gewesen wärst, wäre mein Bruder nicht gestorben!“ Klatsch. Und wie geht Jesus mit ihnen in dieser Situation um? Keine Vorwürfe, pure Akzeptanz und Annahme. Ihre negativ erlebten Gefühle und ihre Anfrage ihm gegenüber dürfen sein, und er lässt sie so stehen. Beide Frauen machen jede auf ihre persönliche Weise in der Folge eine stärkende Beziehungserfahrung. Besonders spannend finde ich, dass sich das Erleben der beiden Schwestern nicht von dem der umstehenden Menschen unterscheidet. Auch andere äußern ihr Unverständnis darüber, dass Jesus Lazarus nicht geholfen hat. Der Unterschied ist, dass die zwei Frauen Jesus damit konfrontieren. Die Anfragen und Gefühle der Außenstehenden bleiben außerhalb der Beziehung mit Jesus. Sie enthalten sich so selbst vor, was die beiden Frauen erleben: eine annehmende und damit wertschätzende Begegnung mit ihrem Freund Jesus. Haben und pflegen wir Beziehungen, in denen wir uns verletzlich machen und uns auch mit unseren unbequemen und als negativ erlebten Emotionen zeigen? – Vielleicht wäre eine Möglichkeit, solch eine Beziehung aufzubauen oder zu erhalten, einer Person bei der nächsten Begegnung unsere ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken, indem wir beispielsweise das Handy auf stumm schalten. Übrigens wartet Jesus auf beide Frauen vor der Stadt. Vielleicht um eine ungestörte Begegnung mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu ermöglichen? – Oder wir entscheiden uns, unser mutigstes Selbst zu zeigen und das, was wir an Gefühlen erleben, ehrlich mit einer uns nahestehenden Person zu teilen. Ich wünsche uns den Mut zu aufmerksamen und ehrlichen Begegnungen mit uns nahestehenden Menschen und einem nahbaren Gott – und die Freude an daraus resultierenden stärkenden Beziehungserfahrungen. Prof. Dr. Kathrin Thiel ist Professorin für Interaktion und Beratung in Non-Profit-­ Organisationen an der IHL in Bad Liebenzell. Dort lehrt und forscht sie im Bereich der Psychologie zum Erleben von Menschen in Organisationen. WEITERDENKEN >> SONDERBEITRAG ZUM THEMA VON KATHRIN THIEL Eine andere Möglichkeit ist es, Gefühle auszudrücken. Emotionen aufzuschreiben hat sich in verschiedenen Studien als positiv für das eigene Wohlbefinden gezeigt. Notieren wir unsere Emotionen, drücken wir sie zwar aus, behalten sie allerdings weiterhin für uns. Damit bleibt unser Erleben eine innere, intrapersonelle Erfahrung, von der andere nichts wissen. Sie können sie höchstens durch unser Verhalten erahnen. Im Gegensatz dazu ist das Teilen von Emotionen mit uns nahestehenden Personen ein interpersoneller, sprich zwischenmenschlicher Vorgang. Er kann daher auch die zwischenmenschliche Dynamik positiv beeinflussen. Neuere Studien zeigen, dass es sich positiv auswirkt, wenn wir Emotionen nicht nur ausdrücken, indem wir sie aufschreiben, sondern sie auch in Beziehungen einbringen. Teilen wir uns nahestehenden Personen mit, wie es uns geht, wirkt sich das nicht nur vorteilhaft auf uns persönlich, sondern auch günstig auf die Beziehung aus. Menschen, die ihre Emotionen im Alltag teilen, berichten von positiveren zwischenmenschlichen Erfahrungen. Sie erleben ein stärkeres Ausmaß an Akzeptanz in ihren Beziehungen und eine größere Verbundenheit. Ihre Zufriedenheit mit ihren Beziehungen steigt im Laufe der Zeit an. Emotionen mit einer nahestehenden Person zu teilen, ermöglicht somit sowohl positive persönliche wie auch zwischenmenschliche Erfahrungen. Dabei geht es nicht darum, unser Erleben mit allen Menschen zu teilen, sondern mit denen, die unser Vertrauen verdient haben. Wagnis Verletzlichkeit Eine Freundin stellte in einem Gespräch die kluge Frage: Wenn es doch so gut ist, dass wir Menschen, die uns nahestehen, unsere Gefühle mitteilen – was hindert uns oft daran, das zu tun? Ein ehrlicher Umgang mit unserem Erleben bedeutet immer auch, ein Wagnis einzugehen. Die Entscheidung, meine Emotionen zunächst selbst ehrlich wahrzunehmen und sie dann meinem Gegenüber mitzuteilen und sich ihr oder ihm zuzumuten, bedeutet immer auch, mich verletzlich zu machen. Denn wie mein Gegenüber mit mir in dieser Situation umgeht, entzieht sich meiner Kontrolle. Mit meinem Erleben allein zu bleiben, ist die sicherere Entscheidung. Gleichzeitig verzichte ich damit auch darauf, stärkende Beziehungserfahrungen zu machen. FOTO: ISTOCKPHOTO/ANA SOFIA Haben und pflegen wir Beziehungen, in denen wir uns verletzlich machen und uns auch mit unseren unbequemen und als negativ erlebten Emotionen zeigen?

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