24 RATLOS Ratlos vor der Selbstdiffamierung der abendländischen Kultur gleichzeitig von einer bemerkenswerten Blindheit geschlagen. Darauf hat Josef Joffe, ehemaliger Herausgeber der ZEIT, in einer Replik aufmerksam gemacht.1 Die Kritik, so Joffe, übersieht in steter Regelmäßigkeit, dass die westlichen Untaten immer universale Verbrechen waren und sind: Die Sklaverei war keine westliche Erfindung. Sie ist so alt wie die Menschheit und weltweit verbreitet: Von den Israeliten im alten Ägypten bis zur anhaltenden Sklaverei in arabischen Ländern war und ist sie ein kulturübergreifendes und internationales Phänomen. Afrikaner waren nicht nur Opfer, sondern allzu oft Täter, die Landsleute gefangen und als Sklaven an arabische „Zwischenhändler“ verkauft haben. Umgekehrt waren Europäer nicht nur Täter, sondern zwischen 1530 und 1780 Opfer arabischer und osmanischer Sklavenjäger. Mehr als eine Million Europäer wurden in dieser Zeit nach Nordafrika verschleppt und als Sklaven gehalten. Die Welt ist kompliziert und kennt mehr Bösewichte als nur „alte, weiße Männer“ aus dem Abendland. Die Kurzsichtigkeit der postkolonialen Kritik Es ist bemerkenswert, wie radikal die postkoloniale Kritik über beeindruckende Errungenschaften hinwegsieht wie Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Bürger- und Menschenrechte sowie den wissenschaftlichen, technologischen und medizinischen Fortschritt. Übrigens sind die „Selbstkritik“, die hier geübt wird, und das „Schuldbewusstsein“, das hier gefordert wird, vielleicht die wichtigsten abendländischen Errungenschaften. Der Hintergrund war der allgemeine Eindruck, dass unsere westliche Zivilisation mit ihrer Geschichte und ihren Werten an eine Grenze stößt und möglicherweise am Ende einer Epoche angelangt ist. Der Tenor bei allen Unterschieden war, dass dem Westen keine Zukunft beschieden ist. Bei der Analyse betrieben nicht wenige Autorinnen und Autoren eine Selbstdiffamierung genau jener Kultur, welche die Meinungsfreiheit, den freien Journalismus und die freie Presse erst hervorgebracht hat – also genau jene, die es ihnen ermöglicht, ihre Gedanken ohne Angst um Leib und Leben öffentlich darzulegen. Westliche „Ursünden“ oder universale Verbrechen? Als Gründe für den Niedergang werden immer wieder dieselben „Ursünden“ des Westens genannt: Kapitalismus, Imperialismus und Kolonialismus haben Raubbau an der Natur und ihren Ressourcen betrieben, indigene Völker versklavt und sie ihrer Bodenschätze, Werte und Traditionen beraubt. Die westliche Dominanz halte bis heute den Rest der Welt im Schwitzkasten. Es sei an der Zeit, diesen Klammergriff nicht nur zu lösen, sondern die Dominanz zu beenden, in sich zu gehen, Abbitte zu leisten und ein großes Schuldbekenntnis zu sprechen. Diese neue „woke“ und postkoloniale Kultur, die überall rassistische, sexistische und soziale Diskriminierungen wittert, aufspürt und mit beeindruckender Selbstgerechtigkeit anklagt, ist „In unserer Serie über die Zukunft des Westens fragen wir Denkerinnen und Denker aus aller Welt, ob die westlichen Werte und Ideen noch zu retten sind.“ In der Wochenzeitschrift „DIE ZEIT“ konnten in den vergangenen Monaten intellektuelle Größen unserer Zeit über „die Zukunft des Westens“ räsonieren. 1 „Ist der Westen der Urquell allen Übels? Warum wir unsere einzigartigen zivilisatorischen Leistungen nicht achtlos in den Wind schlagen sollten“, DIE ZEIT, Nr. 28, 29. Juni 2023, S. 49.
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