MISSION weltweit – Ausgaben 2024

25 MISSION weltweit 1/2024 RATLOS Angefangen von den Bekenntnissen Augustins über die Rechtfertigungstheologie Martin Luthers, die Abschaffung der Sklaverei, der deutschen Aufarbeitung des Holocaust in den Jahrzehnten nach 1945, der Aussöhnung mit Israel und Polen, bis hin zum Bewusstsein für den Klimaschutz und einem schonenderen Umgang mit der Schöpfung war man gerade im Abendland nicht immer, aber immer wieder in der Lage, Fehler und Schuld einzugestehen, um Vergebung zu bitten und anders zu handeln. Ich schreibe diese Zeilen im Oktober 2023 unter dem Eindruck des Terrors und des Hasses, den die Schergen der Hamas über jüdische Menschen in Israel gebracht haben, und angesichts der Unfähigkeit islamischer Staaten und deutscher Islam-Verbände, sich zu den Taten angemessen zu äußern, geschweige denn Schuld einzugestehen und um Vergebung zu bitten. Stattdessen erleben wir antijüdische und antisemitische Exzesse auf Berliner Straßen und ein unsägliches Aufrechnen von palästinensischer mit israelischer Schuld. Wird die Welt besser ohne christliche Wurzeln? Nein, die abendländische Geschichte ist wahrlich nicht nur eine Heldenerzählung. Auch Christen und Kirchen könnten viele (weitere) Bücher über Schuld und Versagen schreiben! Sie ist eine Geschichte von erbetener und erteilter Vergebung, von Versöhnung und Aussöhnung, von Neuanfängen. Diese Seite wäre ohne ihre christlichen Wurzeln nicht möglich. Selbstkritik, Schuldeinsicht und die Bitte um Vergebung sind abendländische Werte, die es zweifellos öfter geben dürfte, die es aber hier eben auch gibt. Vermutlich werden wir den Wert und die Bedeutung der Werte und Errungenschaften dieses Abendlandes erst begreifen, wenn sie gründlich „dekonstruiert“ und entwertet worden sind, das christliche Menschenbild vergessen ist, die großen Kirchen sich verflüchtigt und die christlichen Parteien das „C“ in ihren Namen gestrichen haben. Wir befinden uns mitten in einer Art epochalem Selbstversuch: Wird der Westen und die Welt besser, wenn man das christliche Erbe des Abendlandes auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt? Oder wird man in 30 Jahren möglicherweise merken, dass man unter chinesischer, russischer oder muslimischer Hegemonie vielleicht doch nicht mehr „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, „Ehrfurcht vor dem Leben“ (Albert Schweitzer) oder „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ gewonnen hat als unter dem Einfluss des Evangeliums? Volker Gäckle Wird der Westen und die Welt besser, wenn man das christliche Erbe des Abendlandes auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt? FOTO: ISTOCKPHOTO/RUI_NORONHA Prof. Dr. Volker Gäckle ist verheiratet mit Bettina und Vater von drei erwachsenen Kindern. Der frühere Studienleiter für Neues Testament am AlbrechtBengel-Haus in Tübingen war ab 2006 Direktor des Theologischen Seminars der Liebenzeller Mission. Als Professor für Neues Testament ist er seit 2011 Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell (IHL).

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