WEITERDENKEN >> THEMENBEITRAG VON MARTIN UND ANNETTE EBINGER 19 Wer die Endlichkeit vor Augen hat, der konzentriert sich aufs Wesentliche. Das Leben verdichtet sich, man stellt die Frage nach dem Sinn. Dem Krebs und dem damit verbundenen Leiden der kleinen Menschlein steht eine tiefe Sehnsucht nach Heilung, Transzendenz1 und Wundern gegenüber. Wie bekommen wir diese Wirklichkeiten zusammen? In den vergangenen Jahrzehnten hat die Medizin im Bereich der Kinderkrebsheilkunde unglaubliche Fortschritte gemacht durch neue Therapieformen, nebenwirkungsärmere Behandlungen und das Einrichten von Kompetenzzentren mit hoch qualifizierten Expertinnen und Experten: Heute können 80 Prozent aller krebskranken Kinder und Jugendlichen in Deutschland langfristig geheilt werden. Für viele ist dies bereits ein großes Wunder. Noch in den 1960er-Jahren lag die Sterberate bei 90 Prozent – in vielen Ländern der Welt ist das bis heute traurige Realität. Trotzdem: Ein Text über Wunder geht uns nicht leicht von der Hand. Schon oft haben wir um Wunder in der Kinderklinik gebetet, aber es ist bei Wunden geblieben. Dass diese beiden Wörter sich in nur einem Buchstaben unterscheiden, stimmt nachdenklich und klingt wie eine Zumutung. Als Arzt und Lehrerin der Krebspatienten wünschen wir uns zusammen mit den betroffenen Eltern nichts sehnlicher, als dass das Kind gesund wird. Wir kämpfen, behandeln, experimentieren mit neuen Therapien, spielen, beschäftigen, unterrichten, geben Hoffnung auf Zukunft. Aber 20 Prozent der Kinder begleiten wir nach Monaten der Therapie nicht wieder in die Schule zurück. Stattdessen stehen wir mit den verwundeten, trauernden Eltern im Aufbahrungsraum – sprachlos, weinend und um das Warum ringend. Ein Wunder im klassischen Sinn einer Heilungsgeschichte aus dem Neuen Testament – dass ein Tumor vom einen auf den nächsten Augenblick „verschwindet“ – haben wir in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht erlebt. Routine und wunder-volle Momente Wir behandelten eine zwölfjährige Patientin mit Hirntumor, hatten gerade eine spezielle Mutation entdeckt und wussten: Patienten, deren Tumor diese Mutation trägt, sterben besonders schnell; bisher hatte keiner überlebt. Ich (Martin) erinnere mich, wie ich den Eltern und der Tochter diese traurige Nachricht überbrachte. Heute, sechs Jahre später, lebt sie immer noch! Für mich ist es ein Wunder, wenn aus einer Zehn-Prozent-Überlebenschance eine hundertprozentige Überlebenswirklichkeit wird. Wunder bedeuten: Durch Gottes Eingreifen geschieht etwas Unwahrscheinliches an einem Punkt, an dem wir nicht weiterwissen. Das Krankenhaus mit all seinen Routinen und festen Abläufen scheint nicht gerade ein Ort zu sein, an dem man auf Wunder hofft. Vieles wird hier genau durchgeplant, abgesichert, kontrolliert. Die Wissenschaft regiert. Eine schlimme Diagnose bedeutet für eine Familie immer eine existenzielle Krise, in der völlig unklar ist, wie es weitergeht. Das gesamte Leben gerät aus den Fugen. Wir erleben manchmal, dass unsere Arbeit als Behandlungsteam als ein Wunder wahrgenommen wird. Wir können Hoffnung aufzeigen, eine Möglichkeit, wie es weitergehen kann. In diesen Momenten sind wir dankbar, dass wir in Deutschland über eine gute medizinische Versorgung verfügen, aber auch, dass wir eine Stärke im Rücken haben: Jesus, unseren Herrn. Leben und arbeiten in der Dennoch-Erwartung Seit zwölf Jahren arbeiten wir gemeinsam in der Kinderklinik, teilen uns sogar ein Büro und sind dankbar, dass wir zusammen beten können. Als Oberarzt und Sonderschullehrerin haben wir dieselben „Patienten-Schüler“ und empfinden unsere Berufe als Berufung. In unserem Büro hängt über den Schreibtischen ein Kreuz, darunter eine Karte mit der Aufschrift: Erwarte Wunder. Leider erleben wir meistens keine Heilungswunder, auch wenn wir viel dafür beten. Dann begreifen wir, dass es allein in Gottes Hand liegt, und wir leiden an seiner Souveränität. In diesen Momenten fällt es uns schwer, Gottes Tun nachzuvollziehen und das Elend einer Familie mitansehen und aushalten zu müssen. Das lässt uns sprachlos zurück. Wir können den Familien nur beistehen und versuchen, das Leid mitzutragen in der Gewissheit, selbst gehalten und getragen zu werden von Jesus, unserem zutiefst Mit-Leidenden. Wir möchten Wunder kleiner und zugleich größer als ein Heilungswunder im eigentlichen Sinn verstehen. Wir warten nicht dauernd auf eine Wunderheilung, aber wir halten uns an den vielen kleinen Dingen fest, den „alltäglichen“ Wundern. So erleben wir, dass ein unheilbar krankes Kind fröhlich spielt, dass der tägliche Schulunterricht zum Höhepunkt des Tages wird, dass wir tiefgründige Gespräche führen und beschenkt aus einem Zimmer gehen, in dem ein palliativ versorgtes Menschenkind liegt. – Und wenn es nicht gut ausgeht? Wenn wir es „an den Tod verlieren“? Gerade dann wollen wir für die Familien da sein und sie durch unsere Nähe Gottes Liebe und Fürsorge spüren lassen. Wir wollen bewusst darauf vertrauen, dass Jesus Wunder tun kann, auch auf der Kinderkrebsstation. Das zu glauben, fällt vor allem dann schwer, wenn die jungen Menschen und ihre Eltern einem über Jahre ans Herz gewachsen sind. Oder wenn man im eigenen Leben und dem der Liebsten Wunden erlebt und auf Wunder wartet, sie aber trotz anhaltenden Gebets nicht eintreten. Dass wir noch kein „spektakuläres“ Wunder erfahren haben, möchten wir nicht fatalistisch betrachten. Wir wollen weiterbeten in der Dennoch-Erwartung und dem unverbrüchlichen, zugleich zaghaften Vertrauen, dass bei Gott nichts unmöglich ist; dass er das Wunder tun kann und selbst aus einer Katastrophe wie dem Tod eines Kindes vielleicht irgendwann etwas Gutes erwachsen lässt – damit aus Wunden Wunder werden. Wir wollen Wundern in einem umfassenderen Sinn weiterhin Raum geben – zur Ehre Gottes und im Dienst an den betroffenen Familien. Prof. Dr. Martin Ebinger ist Leitender Oberarzt in der Kinderonkologie Tübingen, seine Frau Annette Ebinger arbeitet als Klinikschul-Lehrerin in derselben Abteilung. Gemeinsam haben sie fünf Kinder – und danken ihrer Tochter Klara, die geholfen hat bei diesem Artikel. 1 Was jenseits unserer Erfahrung liegt, das Übernatürliche.
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